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Torrausch

Warum in der Bundesliga so viele Tore fallen                                                                               


In der Bundesliga fallen so viele Tore wie seit über 30 Jahren nicht mehr und nirgendwo sonst. Drei Experten erklären, woran das liegt. Mit Corona hat das Phänomen nämlich ausnahmsweise mal nichts zu tun.


Es war die letzte dramaturgische Wendung eines unterhaltsamen Topspiels zwischen Bayern München und RB Leipzig, als Thomas Müller in typisch unbeholfener Art sein zweites Tor feierte und sich mit einem Brustklatscher bei Kingsley Coman für seine Vorlage bedankte. So richtig freuen konnten sich die Bayern nach Abpfiff trotzdem nicht, denn Müllers Kopfball war zwar das sechste Tor der Partie, aber nur der Ausgleich zum 3:3-Endstand. 

Dieses Torfestival, in dem Manuel Neuer trotz guter Leistung mal wieder ungewohnt viele Bälle aus dem Netz fischen musste, ist lange kein Einzelfall in diesem Jahr. Mit aktuell 3,31 Toren pro Spiel zeichnet sich die torreichste Bundesliga-Saison seit den früher achtziger Jahren ab. 

„Klar“, wird sich der ein oder andere denken, „schließlich herrscht in diesem Jahr ohne die Fans im Stadion eine Art Trainingsstimmung auf den Plätzen, kein Wunder also, dass so viele Tore fallen.“ In die selbe Argumentationsfalle ist am Sonntag in der TV-Talkshow „Doppelpass“ auch Stefan Effenberg getappt, der hinter den vielen Gegentoren von Bayern München mangelnde Konzentration aufgrund der fehlenden Wettkampfatmosphäre vermutete. Derartige Thesen sind bei genauerer Betrachtung Quatsch, denn der Trend zeichnet sich bereits seit ein paar Jahren ab und hat daher ausnahmsweise mal nichts mit Corona zu tun. 

Eine Saison mit mehr als drei Toren pro Begegnung ist seit der Wiedervereinigung erst drei mal vorgekommen - zwei mal davon in den letzten beiden Saisons. Auch im internationalen Vergleich ist der Torschnitt der Bundesliga außergewöhnlich hoch. 

Seit der Saison 2017/18 werden hier pro Spiel 11,25 Torchancen kreiert, die in ihrer Qualität einen Expected Goals Wert von 3,08 ergeben. Im internationalen Vergleich von UEFAs Top-Fünf Liegen sind das beides mit Abstand die Höchstwerte. Dass in der Bundesliga so viele Treffer fallen, ist also kein Zufall. Aber woher kommt diese Torflut?

Wieso fallen so viele Tore?

„Das liegt an der neuen Spielweise der Mannschaften“, erklärt Hannes Wolf. Der Trainer der deutschen U-18-Nationalmannschaft und häufig gefragte TV-Experte beobachtet seit einigen Jahren einen taktischen Wandel in der Bundesliga. „Die grundsätzliche Herangehensweise in Deutschland ist momentan sehr offensiv. Auch mit vermeintlich schlechteren Kadern, wie bei Union Berlin oder dem VfB Stuttgart, wird konsequenter Angriffsfußball gespielt“, sagt Wolf. 

Die Zeiten, in denen Mannschaften aus dem Tabellenkeller versuchten, das Ergebnis schon ab Anpfiff destruktiv zu verwalten oder sich Trainer wie Domenico Tedesco ohne Ballbesitz in die Champions League mauerten, sind also erstmal vorbei - auch wenn sich das abhängig vom Spielstand ändern kann. „Natürlich gibt es immer noch situativen Anti-Fußball, aber ich sehe in der ganzen Liga keine Mannschaft, deren Spielweise grundsätzlich darauf ausgelegt ist“, sagt Wolf. „Das ist eine Entwicklung der letzten Jahre, die sich in dieser Saison sehr deutlich zeigt.“

Dieser taktische Wandel spiegelt sich auch in Zahlen wieder, die über das bloße Kreieren von Torchancen hinausgehen und Wolfs Eindruck valide bestätigen. „Die Bundesliga hat zur Zeit das höchste Spieltempo Europas“, sagt Dustin Böttger, Gründer der datenbasierten Scoutingfirma „Global Soccer Network“ und Experte in diesem Gebiet. Das Tempo eines Fußballspiels errechnet sich aus die Anzahl der Pässen pro Minute Ballbesitz. Je näher der Ballbesitz am gegnerischen Tor ist, desto weniger Zeit hat der Spieler für den Pass - in der Bundesliga ist das häufig der Fall.

Außerdem ist laut Böttgers umfangreicher Datenbank die Spielweise der Bundesliga-Mannschaften zur Zeit sehr direkt. „Beim direkten Spiel werden die progressiven Pässe, also Pässe, die einen Angriff einleiten oder am Leben erhalten, ins Verhältnis zur Gesamtzahl aller Pässe gesetzt. Umso höher der Wert, umso direkter das Spiel“, erklärt Böttger. Hier muss sich die Bundesliga im Vergleich nur von der La Liga geschlagen geben. In der Premiere League wird dagegen überraschender Weise häufiger horizontal gespielt. „Es ist interessant zu sehen, dass genau die Attribute, die man der Premier League insgeheim nachsagt, also hohes Tempo und hohe Intensität eher auf die Bundesliga zutreffen“, sagt Böttger.

Die Konkurrenz im Kader der Spitzenmannschaften ist deutlich gestiegen

Neben diesem temporeichen Spielsystem und der ungewohnten Offensiv-Freude kleinerer Mannschaften hat laut Wolf auch die positive Entwicklung der großen Vereine einen hohen Einfluss auf die neue Attraktivität der Liga. „Neben Borussia Dortmund und den Bayern haben sich mittlerweile auch RB Leipzig, Bayer Leverkusen und Borussia Mönchengladbach zu Spitzen-Mannschaften entwickelt, die sich auch international messen können. Das sieht man diese Saison auch in der Champions League“, sagt Wolf. In ihren Offensivreihen tummelt sich so viel Qualität, dass sie selbst der enge Terminplan oder Corona-Ausfälle nicht am Tore Schießen hindert. Fällt  zum Beispiel Leverkusens Neu-Einkauf Patrick Schick für vier Spiele aus, macht Back-Up-Kollege Lucas Alario in der Zeit eben sieben Tore - um danach wieder auf der Bank zu landen. 

Diese Beobachtungen decken sich auch mit den wissenschaftlichen Befunden von Prof. Dr. Martin Lames, dem Leiter des Lehrstuhls für Trainingswissenschaft und Sportinformatik an der Technischen Universität München. „Dass in den Spitzenligen und im Speziellen auch in der Bundesliga immer mehr Tore fallen, ist kein Zufall“, sagt Lames. Er erforscht verschiedene Einflüsse auf das Leistungsverhalten von Fußball-Profis und misst seit ein paar Jahren vor allem eine Häufung von Jokertoren. Tore, die er nicht auf das glückliche Händchen der Trainer, sondern auf die hohe Qualitätsdichte der Kader zurück führt.

„Die Konkurrenz im Kader der Spitzenteams ist in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Die eingewechselten Spieler bringen also eine individuelle Motivation auf den Platz, sich zu präsentieren und weiter Tore zu schießen, auch wenn die taktische Vorgabe, das Ergebnis zu verwalten, klüger wäre“, sagt Lames. So kommt es laut Lames in den letzten Jahren immer häufiger dazu, dass Mannschaften noch Tore schießen, wenn das Spiel eigentlich schon längst entschieden ist - selbst wenn es zwei Tage später schon mit dem Charter-Flug nach St. Petersburg geht. „In solchen Situationen wäre es aus taktischer Sicht vernünftiger, die Intensität herunter zu fahren. Mehr als drei Punkte gibt es sowieso nicht“, sagt Lames. „Aber offensichtlich gibt es Faktoren, die dieser mannschafts-taktischen Vernunft überwiegen. Das sieht man exemplarisch, wenn der eingewechselte Leroy Sane das Tor zum 5:0 macht.“

Durch die höhere Anzahl möglicher Wechsel müssen die Trainer weniger taktieren

Dieses Phänomen sieht Hannes Wolf durch die Lockerung der Auswechsel-Begrenzung verstärkt. „Früher ist man schon nach dem dritten Wechsel ein hohes Risiko eingegangen, dass man einen verletzten Spieler nicht mehr auswechseln kann. Bei fünf Wechselmöglichkeiten musst du als Trainer nicht mehr so taktieren", sagt Wolf. „Du kannst deinem Stürmer vor dem Spiel sagen, dass er sich bis zu 65. Minute voll auspowern soll, weil seine Auswechslung sowieso schon feststeht.“

Das resultiert in einer höheren Laufintensität, die laut Wolf einen enormen Einfluss auf die Herausforderung für die Verteidiger hat. „Natürlich werden diese Saison auch häufiger Innenverteidiger ausgewechselt als früher. Aber die meisten Wechsel finden immer noch vorne statt.“ So kommt es zu dem für Abwehrreihen eher ungünstigen Zustand, dass sie mitten in der zweiten Halbzeit plötzlich den frischen und torhungrigen Leroy Sane, Douglas Costa und Eric Maxim Choupo-Moting gegenüberstehen. 

Für die Zuschauer auf der Couch ist das ein angenehmer Zustand, der Unterhaltungswert vieler Bundesligaspiele ist hoch. Die Trainer allerdings dürften sich wünschen, dass es bald wieder weniger Treffer gibt. Denn bei einem 1:0 hat die eigene Mannschaft vermutlich mehr richtig gemacht als bei einem 4:3.


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