(Illustration: Shutterstock / SOMKKU, t3n)
Die Digitalpolitik der EU steht in der Kritik. Doch jenseits der Artikel-13-Aufregung ist Europa auf einem guten Weg. Statt den USA und China hinterherzulaufen, entsteht in der Union die Idee für eine eigene digitale Identität: als Kontinent des Datenschutzes, der KI-Ethik und der strengen Wettbewerbsregeln.
Die EU macht das Internet kaputt. Das haben wir im März alle getwittert, auf Plakate geschrieben, deswegen wählt eine ganze Generation jetzt angeblich nie mehr die CDU. Die Aufregung um Artikel 13 und die ganze Urheberrechtsreform ist nur das letzte Kapitel der digitalen Abneigung gegen Europa: Als vor gut einem Jahr die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) Realität wurde, prophezeiten viele schon einmal das Ende des Internets. Und als Günther Oettinger Digitalkommissar wurde, war ganz Internetdeutschland davon überzeugt, dass aus Brüssel nichts Vernünftiges zu erwarten ist. Je nachdem, aus welcher Filterblase man kommt, heißt es: zu viel Überwachung, zu wenig Innovationsfreundlichkeit, alles überreguliert. Und einen europäischen Digitalchampion, der es mit Google oder Facebook aufnehmen könnte, haben wir sowieso nicht. Wie sollen wir so gegen USA und China bestehen?
Die Antwort könnte sein: Mehr vom Alten. Keine Sorge, nicht mehr von Artikel 13 ist gemeint. Aber mehr von dem, was es uns manchmal ein bisschen schwer macht, die EU zu lieben. Hundertköpfige Diskussionsrunden, endlose Abstimmungen und vor allem: Gesetze, Vorschriften, Regeln. Das sind die Werkzeuge, mit denen Europa auch die digitale Sphäre formen kann: demokratisch, ethisch, im Sinne der Bürger. Diese Sichtweise scheint sich in Brüssel immer mehr durchzusetzen - und verbreitet sich langsam in der gesamten Union. „Europa ist gerade dabei, sich als eine Supermacht der Regulierung zu positionieren", sagt Paul-Jasper Dittrich, Forscher am Jacques-Delors-Institut, ein proeuropäischer Thinktank in Berlin. „Und das wird zunehmend als Chance erkannt."
Bisher nämlich ging es in der Diskussion meist um das, was Europa nicht hat. Zum Beispiel große Techkonzerne. In den Vereinigten Staaten gibt es mittlerweile so viele davon, dass man sperrige Akronyme wie FAANG oder GAFA braucht, um sie zusammenfassen. In China gibt es mit Alibaba, Tencent oder Baidu ähnliche große Techkonzerne und eine staatlich angetriebene Digitalwirtschaft mit einer ganz eigenen Dynamik. Und wir? „Europa war bisher nicht besonders gut darin, Techgiganten zu schaffen", schreibt Andrea Renda, Professor für digitale Innovation am belgischen College of Europe und Head of Regulatory Policy beim renommierten Thinktank Centre for European Policy Studies (CEPS). Das ist vorsichtig ausgedrückt: Tatsächlich scheint ein europäischer Techgigant in weiter Ferne.
Aber vielleicht ist das auch kein Problem. Denn Hinterherlaufen ist ohnehin der falsche Weg. „Eine Aufholjagd ist nie eine erfolgreiche Strategie, um zu gewinnen", schreibt Innovationsforscher Renda. Das Rennen um die größten Plattformen für Verbraucher ist nicht mehr zu gewinnen. Statt einem Kapitalismus wie dem US-amerikanischen hinterher zu träumen oder die chinesische Planwirtschaft zu fürchten, muss Europa eine eigene Identität entwickeln. „Mit den Wahlen und der sich anbahnenden Agenda 2030 findet Europa vielleicht wirklich den Mut, seine alternative Vision des Cyberspaces zu bauen", fügt Renda im Gespräch hinzu.
Tatsächlich werkeln in Brüssel - ganz entgegen gängiger Vorurteile - viele Politiker, Beamte, Aktivisten und Unternehmer an einem neuen, europäischen Weg der Digitalpolitik. Sie arbeiten an einem digitalen Binnenmarkt und an ethischen Richtlinien zur künstlichen Intelligenz. Sie kämpfen dafür, den Bürgern die Hoheit über die eigenen Daten zurückzugeben und die großen Techkonzerne in die Schranken zu weisen. Und sie zeigen, dass sie gewillt sind, der digitalen Welt einen europäischen Stempel aufzudrücken. Während sich in den USA die Politik traditionell zurückhält und die Unternehmen im Silicon Valley erst mal machen lässt, und in China die Regierung die Wirtschaft plant, wollen sie in Europa mit kluger Regulierung die Bedingungen für Innovationen schaffen und dafür sorgen, dass auf dem Weg zu mehr Wohlstand durch Digitalisierung niemand auf der Strecke bleibt.
Das funktioniert in Europa nicht auf Verordnung eines Staatsrates wie in China oder auf Initiative eines Techmilliardärs, sondern nur im demokratische Klein-Klein. Mal paktieren Konservative mit Grünen im Parlament, mal Bürgerrechtler mit Techkonzernen, mal Frankreich mit Österreich wie bei der Digitalsteuer. Oft führt das zu langwierigen Prozessen und manchmal auch zu Artikeln, mit denen niemand so richtig zufrieden ist - aber oft genug auch zu durchdachten Gesetzen. Europa sei vielleicht komplizierter als China oder die USA, sagt auch Wissenschaftler Holger Kett. „Aber die EU hat auch Mittel und Methoden entwickelt, mit denen man alle Teilnehmer abholt und einbindet." Dazu gehört etwa ein institutionalisiertes Hin und Her von Gesetzesvorhaben zwischen Kommission, Parlament und Rat. Oder die umfangreichen Datenbanken, in denen jeder Bürger die verschiedenen Anträge nachvollziehen kann - auf Wunsch auch auf Ungarisch, Finnisch oder Gälisch.
Testlauf für die KI von morgenWie kompliziert Europa sein kann, erlebt Kett gerade aus nächster Nähe. Er leitet das Team Digital Business Services des Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO) - und unterstützt dessen Direktor Wilhelm Bauer in einem EU-Gremium, auf das viele Beobachter mit Spannung blicken. Die Kommission hat im vergangenen Jahr eine „High-Level Expert Group" eingesetzt. Mehr als 50 Forscher und Unternehmensvertreterinnen treiben hier die 2018 veröffentlichte KI-Strategie der EU voran.
Mitte April präsentierte die Expertengruppe erste Leitlinien für den Einsatz künstlicher Intelligenz: In sieben Schritten und mit 131 Fragen sollen Firmen und Programmierer testen, ob ihre Algorithmen ethisch und rechtlich sinnvoll agieren und reagieren. Im kommenden Jahr will die EU dann mit den Ergebnissen aus der Pilotphase weiterarbeiten. „Europa soll führend sein, wenn es darum geht, den Menschen in den Mittelpunkt der KI zu setzen", gab Mariya Gabriel, noch amtierende Kommissarin für den digitalen Binnenmarkt, als Marschroute aus. „Algorithmen und Daten kennen keine Grenzen", sagte sie, „umso wichtiger ist es für uns, die richtigen Regeln zu setzen." Allein, erklärte die bulgarische Politikerin, ginge das jedoch nicht - und verwies auf enge Kooperationen mit Ländern wie beispielsweise Singapur, Kanada oder Japan.