Lange konnten Unternehmen Nachwuchstalente einkaufen, wenn neue Kompetenzen gefragt waren. Die Innovationsgeschwindigkeit der Digitalisierung und Engpässe bei Fachkräften setzen dem ein Ende. Unternehmen sind auf bestehende Mitarbeiter angewiesen und müssen diese fit für Technologien und Abläufe von morgen machen. Lebenslanges Lernen wird zur Pflicht - das zwingt die Unternehmen selbst zur Transformation.
Ein simpler Klick auf der Firmen-Homepage zeigt manchmal, dass zwischen „Pressemitteilungen" und „Karriereseite" mitunter Welten liegen. T-Systems etwa kündigte kürzlich an, mindestens 6.000 Stellen weltweit abzubauen und 4.000 weitere zu „verlagern" - parallel wurde die „T-Systems-Joboffensive" ausgeschrieben. Bei der Deutschen Bank sind es 7.000 Jobs, die in den kommenden Jahren weltweit wegfallen sollen. Gleichzeitig werden alleine für den deutschen Markt mehr als 200 neue Stellen ausgeschrieben. Und Zalando hat im Frühjahr bekannt gegeben, mehr als 200 Jobs im Marketing abzubauen - stellte aber auch in Aussicht, 2.000 neue Mitarbeiter anzustellen.
Kündigungswellen und Joboffensiven, Abbau und Ausbau, Fire and Hire. Diese Strategie von Konzernen und Mittelständlern dürfte bald der Vergangenheit angehören. Jahrzehntelang setzten Unternehmen auf Berufs- und Hochschulen, um Fachkräfte zu finden. Schulungen im Betrieb sorgten für den nötigen Feinschliff bei der Bedienung von neuen Programmen oder Anlagen. Brauchte man tatsächlich neue Kompetenzen, etwa für das Internet, wurden neue Abteilungen aufgebaut und eingekauft. Doch das funktioniert nur noch in Ausnahmefällen. Der Grund: Vielerorts ist der Fachkräftemarkt schlichtweg leer gefegt.
Vor allem in IT-Berufen wird der Engpass immer deutlicher: Eine Stellenausschreibung für einen „Data Scientist" oder „KI Engineer" läuft schon jetzt häufig ins Leere - die wenigen Experten werden mit Anfragen von Headhuntern überschüttet. Um 50 Prozent ist die Zahl der gemeldeten offenen Stellen in IT-Berufen in den vergangenen zwei Jahren gestiegen, ermittelte das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) Köln im Juni: „Die Hochschulen können die hohe Nachfrage nach IT-Absolventen derzeit nicht befriedigen", schreiben die Forscher des arbeitgebernahen Forschungsinstituts nüchtern.
Viele Firmenchefs beklagen lautstark den Fachkräftemangel und schimpfen auf das Bildungssystem, das den Anforderungen der Wirtschaft nicht gerecht werde. Dabei können sie das Schicksal ihrer Unternehmen selbst in die Hand nehmen - und ihre bestehende Belegschaft auf die Zukunft vorbereiten, statt auf passenden Nachwuchs von Unis und Fachhochschulen zu hoffen. Dazu aber müssen sie ihre Weiterbildungsstrategien umkrempeln - weg von einmaligen Schulungen, hin zu einer Kultur, in der Lernen Teil des Alltags ist. Das aber bedeutet: Unternehmen müssen mehr Zeit und mehr Geld für Weiterbildung freimachen. Und sie müssen den Mut aufbringen, neue Wege zu gehen. Eine Einbahnstraße ist das nicht: Auch die Mitarbeiter selbst müssen sich darauf einstellen, dass sie für den Arbeitsalltag von morgen stetige Updates benötigen. Weiterbildung wird für alle von der analogen Kür zur digitalen Pflicht.
Als Buzzword ist „lebenslanges Lernen" keine neue Erscheinung. Politiker, Firmenlenker, Gewerkschafter: Sie alle betonen seit Jahren den wachsenden Stellenwert von Weiterbildung. Tatsächlich hat sich auch viel getan, wie Auswertungen des IW Köln zeigen: Hatte 1979 gerade einmal jeder fünfte Erwerbstätige in Deutschland eine Weiterbildung absolviert, waren es zuletzt 60 Prozent. Die Betriebe geben jährlich 33,5 Milliarden Euro für Weiterbildung aus - das sind über tausend Euro pro Mitarbeiter.
Und dennoch: Das Engagement reicht noch lange nicht aus. Denn der große Umbruch in der Arbeitswelt hat gerade erst begonnen. Die rasanten Fortschritte bei künstlicher Intelligenz verleihen der Digitalisierung neues Tempo - und Führungskräften in Unternehmen dämmert längst, dass sich die Aufgabenverteilung zwischen Mensch und Maschine in naher Zukunft drastisch verändert. In einer Umfrage der Beratung McKinsey unter europäischen Managern gab kürzlich mehr als die Hälfte der Befragten an, dass in den kommenden fünf Jahren mindestens ein Viertel ihrer Mitarbeiter neue Kompetenzen braucht. Dass sich die Herausforderungen der Automatisierung und Digitalisierung vor allem durch Neueinstellungen lösen lassen, glauben indes nur sieben Prozent.
Um nicht vom Fachkräftemangel gelähmt zu werden, müssen also groß angelegte Weiterbildungsinitiativen her. Erste Unternehmen haben das erkannt - doch in der Gesamtwirtschaft ist davon aktuell viel zu wenig zu sehen: „Noch denken viele Unternehmen nicht strategisch genug über Weiterbildung nach", sagt Anna Wiesinger, Associate Partner bei McKinsey. „Sie versuchen, die Lücken zu schließen, die sich auftun. Aber eigentlich müssen sie überlegen: Welchen Mangel an Fähigkeiten und Fachkräften wird es in fünf bis zehn Jahren geben?"
Einfache Antworten auf die Frage gibt es nicht. Zumal sie im Grunde gleich mehrere Probleme adressiert: Einerseits gibt es Menschen, die für ihre jetzige Tätigkeit neue Dinge lernen müssen, zum Beispiel mit einer neuen Software umzugehen. „Upskilling" nennen das die Autoren der Studie, die McKinsey zusammen mit der Sozialunternehmerorganisation Ashoka durchgeführt hat. Andererseits entstehen ganz neue Jobs, vom E-Commerce-Kaufmann bis zum KI-Ingenieur, und damit auch neue Anforderungen an Wissen und Fähigkeiten der Menschen, die diese Jobs ausüben sollen. Sie brauchen nicht nur Trainings, sondern Umschulungen, also ein „Reskilling".
Digitale Grundausbildung für alleVergleichsweise weit verbreitet ist nach Einschätzung der Experten das „Upskilling", dessen Logik klassischen Weiterbildungen entspricht. Neu ist, dass nicht mehr nur eine Handvoll von Mitarbeitern geschult werden muss, sondern ganze Teams und Abteilungen. Und dass nicht nur der Umgang mit neuen Programmen gelehrt wird, sondern ein grundlegendes Verständnis für neue Geschäftsmodelle und Arbeitswelten geschaffen werden muss. Digital wird neben Englisch und Deutsch in vielen Firmen die dritte Arbeitssprache.
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