Jeder Mensch will sich durch Sprache, Mimik und Gestik mitteilen. Menschen, die unter dem Locked-in-Syndrom leiden, können das nicht: Sie sind bei Bewusstsein, aber vollständig gelähmt. Dem Tübinger Niels Birbaumer ist es als weltweit erstem Forscher gelungen, dennoch mit ihnen zu kommunizieren. Wie macht er das?
Tübingen - Eingeschlossen im eigenen Körper. Was denken Menschen, die seit Jahren nicht mehr sprechen, nicht mehr blinzeln, nicht einmal mehr selbst atmen können? Niels Birbaumers Patienten sind aufgrund von Amyotropher Lateralsklerose (ALS) vollständig gelähmt, sie sind „locked-in". Sie riechen, hören und fühlen wie ein gesunder Mensch. Sprechen oder sich auf herkömmliche Weise bemerkbar machen können sie jedoch nicht. Birbaumer ist gelungen, was unmöglich scheint: Er schaut ALS-Patienten quasi in den Kopf.
Herr Birbaumer, Sie können offenbar Gedanken lesen. Wie machen Sie das?
Gedanken lesen kann ich noch nicht. Mit den ALS-Patienten kommunizieren aber schon. Wir arbeiten mit Infrarotstrahlen, die die Blutströmungen im Gehirn messen, und mit einem
EEG, mit dem wir die elektrische Aktivität im Gehirn messen. Dafür setzen wir dem Patienten eine Kappe mit Elektroden auf, die mit einem
Computer verbunden ist. Wenn der Patient denkt, verändert sich der Blutfluss im Gehirn. Wenn alles klappt, weiß das System, das wir benutzen, ob der Patient gerade Ja oder Nein denkt.
Wie machen Sie daraus eine verständliche Botschaft?
Unser System erkennt, welche Regionen im Gehirn aktiv sind. Je nachdem, was der Patient denkt, sieht das ganz unterschiedlich aus. Und auch das wiederum ist von Mensch zu Mensch verschieden. Deshalb muss unsere sogenannte Gehirn-Computer-Schnittstelle bei jedem Patienten neu lernen, wie er denkt. Wir fangen also an, einfache Fragen zu stellen, von denen wir die Antwort kennen. Fragen wie „Heißt deine Mutter Waltraud?“ oder „Ist London die Hauptstadt von Spanien?“. Der Patient denkt dann entweder Ja oder Nein, was unser System zu erkennen versucht. Wir erkennen durch die Trainingsfragen, ob das System richtig liegt, und machen dann mit echten Fragen weiter.
Und Sie erhalten tatsächlich Antworten?
Bei ALS sterben die Nervenbahnen zu den Muskeln ab, die für Bewegungen verantwortlich sind. Dadurch können die Patienten ihre Muskeln nicht mehr steuern, sie verkümmern langsam. Ihr Bewusstsein ist noch da. Trotzdem funktioniert unser System nicht sofort einwandfrei. Die Tagesform kann eine Rolle spielen, vielleicht war der Patient abgelenkt oder hat nicht intensiv genug gedacht. Nach einer gewissen Zeit des Trainings aber können sie mit ihren Angehörigen kommunizieren.
Das muss unglaublich für die Familie sein.
Ja, für die Familie ist es immer ein sehr großer Moment! Es gibt Angehörige, die seit über zehn Jahren nicht mehr mit ihrer Frau oder ihrem Mann gesprochen haben, und dann ist es auf einmal wieder möglich, sich bis zu einem gewissen Grad auszutauschen. Vor Kurzem waren wir bei einem Familienvater aus Bayern, Anfang 30, der hat zum ersten Mal alle Trainingsfragen richtig beantwortet. Da stand die Familie kopf, das war für sie eine riesige Erleichterung.
Über was wird dann gesprochen?
Es geht primär nicht um die Inhalte oder darum, was gemacht wird. Die sozialen Kontakte werden vordringlich. Und dann hängt es ganz davon ab, was das für Leute sind. Der Familienvater zum Beispiel war beim FC Bayern angestellt. Seine Kumpels sind alle FC-Bayern-Typen, dann geht es eben in den Gesprächen um die Entwicklung des Vereins und solche Sachen. Eine andere Patientin hört gerne Operetten. Deshalb geht ihr Mann alle zwei Wochen mit ihr in die Philharmonie.
Das heißt, bei diesem Ehepaar geht es dann um die Auswahl der Stücke und solche Dinge.
Genau. Der Patient ist eben immer von den Fragen abhängig und kann nur mit Ja oder Nein antworten. Das schränkt die Kommunikation natürlich ein. Für die Patienten ist es aber ein enormer Fortschritt.
Bereits Anfang der 90er Jahre haben Sie es geschafft, einen Menschen nur mit der Kraft seiner Gedanken kommunizieren zu lassen.
Wie bitte, einen Brief?
Ja. Wir haben auch damals mit einer Hirn-Computer-Schnittstelle gearbeitet, uns aber die elektrischen Aktivitäten im Gehirn zunutze gemacht und nicht wie heute auch mit dem Blutfluss gearbeitet. Salzmann wurden die Buchstaben des Alphabets vorgelesen. Wenn er den Buchstaben gehört hat, den er schreiben wollte, musste er seine elektrische Aktivität im Stirnhirn steigern. Das geht, indem er sich zum Beispiel vorgestellt hat, einen Ball zu kicken oder einen Pfeil im Bogen zu spannen. Das erzeugt eine bestimmte Frequenz der Hirnwellen. Das System registriert das und wählt dann den Buchstaben aus.
Wieso arbeiten Sie heute mit einem anderen System, wenn es schon in den 90er Jahren möglich war, Briefe zu schreiben?
Wir haben festgestellt, dass es für die meisten Patienten einfacher ist, die Blutzirkulation im Gehirn aktiv zu beeinflussen, als über die elektrische Aktivität zu kommunizieren. Es haben zwar einige Patienten mit der ersten Methode arbeiten können, viele sind aber auch gescheitert. Das hat die Betroffenen natürlich frustriert.
Für jeden gesunden Menschen ist die Vorstellung der absolute Horror, wie ALS-Patienten leben zu müssen. Wie geht es ihnen?
Wir fragen das natürlich nach. Unsere Arbeit wäre sinnlos, wenn wir herausfänden, dass die Patienten gar nicht leben wollen. Aber ihre Lebensqualität ist sehr gut.
Das mag viele überraschen. Woher kommt das?
Die Entscheidung für das Leben in vollständiger Lähmung ist letztendlich eine bewusste. Da bei ALS selbst das eigenständige Atmen irgendwann nicht mehr möglich ist, muss man sich für eine künstliche Beatmung entscheiden, also für lebensverlängernde Maßnahmen. Die meisten Betroffenen entscheiden sich dagegen. Weil sie glauben, dass es ein furchtbarer Zustand ist. Das ist es aber nicht.
Ist es nicht?
Natürlich ist es zunächst für jeden Menschen eine Katastrophe, der die Diagnose ALS bekommt. Und es ist ein weiterer harter Einschnitt, wenn die Patienten kurz vor der Beatmung stehen. Diese Situation muss man psychisch meistern. Aber wir haben festgestellt, dass Menschen dazu unter gewissen Bedingungen in der Lage sind. Wir haben festgestellt, dass der entscheidende Faktor die positive Familienbeziehung ist. Es überleben wahrscheinlich nur die, die eine Familie haben. Stellen Sie sich vor, Sie sind vollständig gelähmt und liegen hilflos daheim. Die Folge ist, dass alle Menschen äußerst positiv zu Ihnen sind. Es gibt praktisch nichts Negatives mehr. Dass Sie über Jahre hinweg in einer positiven Umgebung leben, färbt auch auf das Gehirn ab.
Kann man das messen?
Wir haben das untersucht und festgestellt, dass die Regionen im Hirn, die Positives wahrnehmen, stärker ausgeprägt sind. Das erklärt, warum die Lebensqualität bei ALS-Patienten mit der Zeit eher zu- als abnimmt – was absurd erscheint. Wir nehmen außerdem an, dass es eine Rolle spielt, dass die Muskeln vollkommen entspannt sind und das Gehirn dauerhaft das Signal „Ruhe“ bekommt. Das ist wie bei extremer Meditation. Wir haben deshalb Meditationskünstler aus Ostasien untersucht. Deren Gehirn sieht ähnlich aus wie das unserer Patienten.
Selbst Grundbedürfnisse wie Essen und Trinken können bei ALS-Patienten nicht gestillt werden. Was bleibt ihnen?
Dinge, die uns Gesunde antreiben, wie „ich muss“ oder „ich soll“ fallen bei ihnen weg. Dadurch wird man viel frustrationstoleranter. Bei den Patienten stehen die sozialen Kontakte im Mittelpunkt, die sind am wichtigsten. Und es bleiben ihnen Fantasie, Vorstellungen, Erinnerungen.
Werden die Kinder des Familienvaters aus Bayern, von dem Sie erzählt haben, irgendwann wieder richtig mit ihm reden können?
Unser großes Ziel ist es, ein schnelles Kommunikationssystem für die Patienten zu entwickeln. Ein System, mit dem sie Wörter bilden können und auf eigenen Impuls hin kommunizieren können und nicht von anderen und ihren Fragen abhängig sind. Im Wyss-Center in Genf arbeiten wir an einer Methode, bei der kleine Mikroelektroden in den Kopf implantiert werden.
Was unterscheidet diese Methode von jener, die Sie zurzeit anwenden?
Die Signale müssen nicht erst durch die Schädelecke, dadurch sind die Messungen viel deutlicher. Je nachdem, ob der Patient noch sehen kann oder nicht, liest der Computer nacheinander Buchstaben vor oder zeigt sie auf einem Display an. Wenn der Patient einen Buchstaben auswählen will, denkt er „Jetzt“. Im besten Fall könnte der Bayer, um bei Ihrem Beispiel zu bleiben, wieder verhältnismäßig flüssig sprechen. In den USA wurde so etwas schon gemacht. Allerdings mit Patienten, bei denen die Augen noch beweglich sind. Wir wollen die Methode mit Completely-locked-in-Patienten anwenden, also Menschen, die auch nichts mehr sehen. Das ist die große Aufgabe, an der wir zurzeit arbeiten.
Zur Person:
Niels Birbaumer, 73 Jahre alt, ist Professor für Medizinische Psychologie und Verhaltensneurobiologie an der Universität Tübingen. Er wohnt in Mössingen. In Tübingen, „dieser Akademikerstadt, dieser Spießerstadt“, sagte er kürzlich der „Zeit“, halte er es nie lange aus.
Mehr als 600 Publikationen, 27 veröffentlichte Bücher, 15 Auszeichnungen, darunter der Leibniz-Preis: Niels Birbaumer ist ein leidenschaftlicher Wissenschaftler. Bei seiner Arbeit überschreitet er mitunter Grenzen. So spritzte er sich Anfang der 70er Jahre selbst ein Gift, das augenblicklich alle Muskeln lähmt, den Geist aber unversehrt lässt. Ein Anästhesist hielt ihn durch künstliche Beatmung am Leben. Niels Birbaumer wollte durch dieses Experiment am eigenen Leib erfahren, wie sich ein ALS-Patient fühlt.
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