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„The Life of Pablo“: Unser Hass auf Kanye West ist ein Missverständnis - WELT

Keiner liebt Kanye wie Kanye: Mr. West (M.) bei der Vorstellung seines Albums „The Life of Pablo“ im Madison Square Garden in New York

Kanye West veröffentlicht mal wieder ein fantastisches Album - und ein Großteil der Welt hat nur Häme für ihn übrig. Warum treten wir den wichtigsten Musiker der letzten zwei Jahrzehnte so mit Füßen?

Er hat dieses ganze Dilemma doch schon selbst auf den Punkt gebracht. Auf Kanye Wests sechstem Album „Yeezus“ singt ein Kinderchor eine Zeile, die alles zusammenfasst: „He'll give us what we need, it may not be what we want.“ Und auch wenn dieser Satzfetzen bereits in den Achtzigern aufgenommen wurde, ausgeschnitten aus einem alten Gospellied, verrät er uns doch Einiges über den Mann, mit dem die halbe Popwelt auf Kriegsfuß steht - während die andere Hälfte ihn anbetet.

Natürlich kann man ein Plädoyer für Kanye West nicht mit Kafka- oder van-Gogh-Vergleichen eröffnen. West ist nicht der Eigenbrötler, der zu Lebzeiten im stillen Kämmerlein an seinen Meisterwerken tüftelt und erst lange nach seinem Tod als Genie ins kollektive Gedächtnis wandert, weil eine Verkettung ungewöhnlicher Umstände seine Arbeiten ans Licht fördert. Was West tut, könnte präsenter nicht sein.

Doch er passt ebenso wenig in die entgegengesetzte Schublade: Kanye West ist nicht wie die anderen Popstars des 21. Jahrhunderts, und hier müssen wir etwas ausholen: Wenn man einen Popstar liebt, kennt man ihn nicht, und wenn man jemanden liebt, den man nicht kennt, liebt man oft nur den Stereotypen, für den er steht.

Musik als Selbstreflexion

Adele ist der Normalo mit der tollen Stimme, Justin Timberlake der Schönling, Beyoncé die toughe, selbstbestimmte, erfolgreiche Frau. Ihr Mann Jay Z, der gemeinsam mit Kanye West vor fünf Jahren das Album „Watch The Throne“ aufnahm, ist im Laufe der Zeit zum Sinnbild des stilvollen Gangsters versteinert, während seine Musik seit mindestens acht Jahren weder stilvoll noch gangster ist. Dennoch haben ihn fast alle musikuninteressierten Menschen dieser Welt auf Lebenszeit in seiner Rolle akzeptiert.

Die Rolle, in die Kanye West schlüpft, unterscheidet ihn von all diesen Stars: Es gibt keine. Kanye West war, ist und wird nie jemand anders sein als Kanye West. Nicht in unseren Augen, nicht in seinen. Er trägt keinen Künstlernamen (fällt Ihnen auf Anhieb ein zweiter Rapper ohne Künstlernamen ein?), der einzige Fixpunkt seiner Musik ist sein eigenes Leben, und wer die nicht hört, dem bleiben eben nur ein paar Tweets, um sich ein Urteil zu bilden - und ja, über die lässt sich freilich diskutieren. Doch wer die ganze Geschichte des großen Unverstandenen verstehen will, muss einen Blick in seine Vergangenheit werfen.

Wests Karriere, die übrigens schon 14 Jahre vor seinem Twitter-Account begann, ist von zwei Schicksalsschlägen geprägt. Der erste traf ihn selbst, es war ein Autounfall im Jahr 2002. West, der damals noch Beats für Jay Z bastelte, prallte mit seinem geleasten Lexus auf dem Heimweg vom Studio in zwei weitere Autos und eine Ampel.

Der stille, talentierte Produzent, der nur im Hintergrund die Fäden zog, starb an diesem Herbsttag. Der Mann, der zwei Wochen nach dem Unfall das Krankenhaus verließ, war ein gänzlich anderer: West hatte sich den Kiefer zerschmettert, musste eine Klammer tragen und konnte seinen Mund nicht richtig öffnen.

Aus dieser Zeit, in der ihm das Schicksal im wahrsten Sinne des Wortes die Sprache verschlug, stammt sein bis heute ungebrochenes Mitteilungsbedürfnis. Kanye West fing an, selbst zu rappen, anfangs noch „Through The Wire“, durch die Klammer um den Kiefer, wie seine erste Single hieß.

Es vergehen fünf Jahre, bis ein zweiter Todesfall das Gleichgewicht ins Wanken bringt. Diesmal ist es ein echter: Kanyes Mutter Donda West stirbt am 10. November 2007 an den Folgen einer plastischen Operation. Als er einige Monate später von seiner damaligen Verlobten Alexis Phifer verlassen wird, steht er ohne die beiden wichtigsten Menschen seines Lebens da und ist mit den Nerven völlig am Ende.

Durch die Trauer zur Selbstverwirklichung

Die Krise mündet in „808s & Heartbreak“, einem der traurigsten Alben der Musikgeschichte, auf dem West gänzlich aufs Rappen verzichtet: Er singt. Dass er dabei durch jeden der zwölf Electro-Pop-Songs eine unüberhörbare Autotune-Schleimspur zieht, bringt ihm den gleichen Hass ein, dem sich einst Bob Dylan ausgesetzt sah, als er sein Gitarrenkabel in die Steckdose stöpselte. Was der Bauer nicht kennt, das isst er nicht, auch nicht im Hip-Hop.

Doch West hatte mit „808s & Heartbreak“ eine Tür aufgestoßen. Für andere Musiker wie Frank Ocean, The Weeknd und Drake, die den Stil des Albums für ihre eigenen Werke kopierten. Aber auch für sich selbst: Es war nun offensichtlich, dass Kanye er selbst sein musste, um zu überleben. Und spätestens nach einer so kontroversen Platte konnte er sich musikalisch weit genug aus dem Fenster lehnen, um dieser Aufgabe gerecht zu werden.

Nachdem die Trauer überwunden war, folgten mit „My Beautiful Dark Twisted Fantasy“, „Yeezus“ und, seit letzter Woche, „The Life of Pablo“ drei Alben, deren einziger Zweck Kanye Wests künstlerische Selbstverwirklichung ist. Heute ist seine Musik längst kein Hip-Hop mehr. Sie ist eine Abhandlung über Glauben, Sklaverei, Unterdrückung, Schwäche und Liebe, die den HipHop als Vehikel nutzt - mittlerweile nur noch als eines von vielen: Dass West jetzt auch unter die Modedesigner gegangen ist und eine (zugegeben äußerst verstörende) Show im Madison Square Garden aus dem Hut gezaubert hat, das kann man ihm gern als maßlosen Größenwahn auslegen.

Doch ebendieser Größenwahn gründet auf einem zwanghaften und mittlerweile ausgearteten Trieb, immer alles richtig machen zu müssen. „Lock yourself in a room doing five beats a day for three summers“, so beschrieb West im Song „Spaceship“ sein Arbeitsethos als Produzent. Es ist dieser Ehrgeiz, der ihm über all die verschiedenen Phasen seiner Karriere nicht abhanden gekommen ist: Noch vor einigen Jahren nahm er 75 verschiedene Versionen von „Stronger“ auf, um seinem kranken Idealismus gerecht zu werden.

Seinen allergrößten Song „Runaway“ krönte er mit einem 35-minütigen Musikvideo. Das bis heute beste West-Album, „My Beautiful Dark Twisted Fantasy“ aus dem Jahr 2010, entstand in monatelangen Sessions auf Honolulu, bei denen er das Studio so gut wie nie verließ und sich selten mehr als ein Nickerchen hinterm Mischpult genehmigte.

Kanye ist sein größter Kritiker

Was wir derzeit erleben, könnte der Beginn einer vierten Phase im Leben und Schaffen des Kanye West sein, nach der stillen, der glücklichen und der aufgewühlten - und wir wissen noch nicht genau, was uns erwartet. Schon seit jeher weiß West, dass er mit seinem Image spielen kann, und genauso wie er selbst sein größter Kritiker ist, kann er selbst auch am besten über sich lachen: In einem legendären Saturday-Night-Live-Sketch unterbrach West diverse Preisverleihungen, lange bevor er es im echten Leben bei Taylor Swifts MTV-VMA-Rede tat - das war 2009 und wird im öffentlichen Diskurs gerne als endgültige Arschlochwerdung Wests betrachtet.

Ob seine geplante US-Präsidentschaftskandidatur für die Wahl im Jahr 2020, deren Idee auf Twitter langsam Gestalt annimmt, nur ein Scherz ist, das können wir schwer einschätzen. Es würde aber zu seinem Perfektionismus passen - nur dass diesmal nicht eines seiner Alben so gut wie möglich werden soll, sondern gleich sein ganzes Land. Zuzutrauen ist ihm diese grandiose Selbstüberschätzung. Ob West nun ein Spiel mit uns spielt oder nicht: Vielleicht weiß er das im Moment selbst noch nicht. Doch diejenigen, die ihn dafür verspotten, hat er schon längst an der Nase herumgeführt.

West ist keine Unterhaltungsmaschine, und wir können ihn auch nicht zu einer machen, indem wir über ihn lachen. Die Art und Weise, wie wir mit Kanye West umgehen, lehrt uns mehr über uns als über ihn. Es fällt uns leicht, die Musik seelenloser, singender Hüllen zu verstehen. Es ist um Einiges schwieriger, mit einem Popstar klarzukommen, der in erster, zweiter und dritter Linie ein Mensch ist. Mit Fehlern, mit einem dämlichen Twitter-Account und weiß Gott nicht immer sympathisch.

Aber genau darum brauchen wir Kanye West: Um uns da aufzurütteln, wo wir erstarrt sind. Auch wenn er gar nicht will, dass wir uns empören. Sich von Kanye West provoziert zu fühlen, ist ein Reflex, dem man widerstehen muss. Erst dann kann man begreifen, was für ein sensationeller Musiker er ist.

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