Der aufgeschlossene Neu-Frankfurter informiert sich selbstverständlich noch vor seinem Umzug über die zukünftige Heimat. Mit heimlichem Stolz über sein neu erworbenes Fachvokabular klärt er Freunde darüber auf, dass er ab jetzt ein „Eingeplackter" sei. Dass Süßgespritzter und Offenbach verpönt sind wusste er schon lange, und mühsam prägt er sich ein, welche Mainseite als „Hibbdebach" und welche als „Dribbdebach" bezeichnet wird. Auch vom Frankfurter Charme hat er schon einiges vernommen und markiert sich mit gewissem Stolz den Tag im Kalender, an dem er in einer Apfelweinwirtschaft zum ersten Mal richtig deftig angepflaumt wurde. Lieber Eingeplackter, Du bist auf einem wirklich guten Weg. Aber Du musst trotzdem noch einiges lernen, um die Frankfurter und ihre Eigenheiten besser verstehen zu können. Und weil wir mitunter auch nett sein können, helfen wir Dir damit.
Was man über Frankfurt sagtEs gibt zwei Klischees, die man landläufig über Frankfurt hört und auch selbst immer wieder reproduziert. Das eine Klischee wirst Du, der Eingeplackte, am eigenen Leib erfahren haben: Kein Mensch zieht freiwillig nach Frankfurt. Berlin, München und Hamburg sind aus den unterschiedlichsten Gründen beliebt, während Städte wie Stuttgart generell gemieden werden. Aber wie steht es um Frankfurt? Jeder hat diese Stadt aus irgendeinem Grund schon einmal besucht. Bei dem kurzen Ablaufen der Zeil, in Reiseführern unerklärlicherweise als „flanieren" bezeichnet, blieb einem aber (oh Wunder!) die Schönheit dieser Stadt verborgen. Zugegeben, man muss nach dieser Schönheit auch gründlich suchen.
Warum also kommt der Zugezogene hierher? Zumeist ist es der Job, den er grummelnd annimmt. Da Frankfurt aber in jeder Hinsicht eine Stadt der Gegensätze ist, macht sich auch in der Brust des Eingeplackten früher oder später das paradoxe, unerwartete Phänomen breit: Wer nach Frankfurt zieht, der zieht auch nicht mehr weg. Und damit haben wir auch schon das zweite, nicht minder wahre Klischee. Gewöhnlich ist nicht rational greifbar, wann und warum Frankfurt zur akzeptierten Heimat wird. Es ist einfach so.
Die gepflegte HassliebeAber, lieber Eingeplackter, uns gebürtigen Frankfurtern geht es nicht anders. Um wieder zu unseren großstädtischen Nachbarn zu blicken: Während die Berliner, Münchner oder Hamburger stolz auf ihre Heimatstädte sind, hegt und pflegt der Frankfurter eine lebenslange und tiefgehende Hassliebe zu Frankfurt. Er versucht zu fliehen, er flieht oft, er schimpft und schandet - und kommt doch immer wieder zurück, und verteidigt seine Stadt doch immer wieder aufs Blut. Übrigens erging es Goethe nicht anders. Zwar schmückt sich Frankfurt gerne mit dem bekanntesten Sohn der Stadt, aber auch der gute Johann Wolfgang gehörte zu den Frankfurtern, die lieber das Weite suchten. Mit dem Unterschied, dass er der Stadt dauerhaft fernblieb.
Das leidige LieblingsthemaZum beliebtesten Gesprächsthema in Frankfurt wirst auch Du, leidtragender Eingeplackter, Deinen Senf beisteuern können: Mietpreise. Es gibt kaum eine Unterhaltung, bei der sich der gemeine Frankfurter nicht auf masochistisch-ergötzende Weise über die Frankfurter Wohnsituation auslässt. In der Tat liefert dieses Thema Stoff für abendfüllende Schimpftiraden, bei denen zwischen den Teilnehmern in aller Ausführlichkeit erörtert wird, wo die eigene Wohnung liegt, wie groß sie in Zimmern und Quadratmetern gemessen ist, ob Altbau, ob Balkon und natürlich, wie hoch Kalt- und Warmmiete sind. Nachdem jeder reihum ausgiebig über die eigene Wohnsituation gemotzt und zugleich über die Unannehmlichkeiten der anderen gestaunt hat, ist das Gespräch aber noch lange nicht erschöpft: Jetzt geht es zunächst weiter mit der Wohnsituation sämtlicher Bekannter und Verwandter, bevor man auf die Mietpreise des Vormieters beziehungsweise auf die vor der letzten eigenen Mieterhöhung zu sprechen kommt.
Es wird erörtert, ob man lieber in die Frankfurter Peripherie wie Sindlingen oder Nieder-Erlenbach oder doch eher nach Offenbach ziehen würde (hier gehen die Meinungen stark auseinander, Du kannst also gefahrenlos für Offenbach plädieren, lieber Eingeplackter), es werden über absurde Wohnprojekte und Baustellen in der Innenstadt geschimpft, außerdem vergleicht man Mietpreise mit anderen Städten, nicht nur national, sondern auch international versteht sich, und nachdem einer erwähnt, dass er im Internet schon WG-Zimmer für 900 Euro entdeckt hat, zählt ein jeder mit unverhohlenem Neid die Personen aus dem Bekanntenkreis auf, die dank eines alten Mietvertrags für eine 80-Quadratmeter-Wohnung im Nordend nur 400 Euro zahlen.
Daraus lernst Du zwei Dinge, mietwucherzahlender Eingeplackter: Zum einen ist es nicht unhöflich oder indiskret gemeint, wenn Du über jedes Detail Deiner neu erworbenen Wohnung ausgequetscht wirst. Zum anderen hast Du, sollte das Gespräch über dem noch halbvollen Bembel ins Stocken geraten, jetzt das perfekte Reizthema, um mehrere Bembel lang erregt zu diskutieren.
Natürlich der FußballEin anderes Bembel-Thema wäre, logisch, wie könnte es anders sein, die Eintracht, zu der der gebürtige Frankfurter übrigens eine ähnliche Hassliebe verspürt wie zu seiner Heimatstadt - in diesem Fall überwiegt allerdings die Liebe.
Nicht drüber sprechen: Rostock. Wenn Du nicht weißt, worum es geht, heimlich googlen und weiterhin schweigen. Auch nach mehr als 25 Jahren sitzt der Stachel bei vielen tief.
Immer drüber sprechen: Das 5:1, der wohl glorreichste Moment in der jüngeren Eintracht-Geschichte. Auch nach fast 20 Jahren sitzt der Stolz bei fast allen tief. In einer Hinsicht unterscheidet sich die Eintracht übrigens von allen Fußballvereinen der Welt: Der andere Stadtverein, der FSV, ist nicht der erbitterte Gegner, er ist vielmehr ein befreundeter Klub. Ganz ohne Erzfeind kommt die Eintracht natürlich nicht aus, der Lokalpatriotismus gebietet lediglich, nichts und niemand aus Frankfurt auszubuhen. Dafür müssen dann die Kickers oder Mainz herhalten, und gerne auch die Bayern.
Das traurige KapitelEin trauriges Kapitel aus der jüngeren Geschichte, das der Rest der Bundesrepublik schon lange vergessen hat, bewegt die Frankfurter auch nach fünfzehn Jahren immer noch sehr. Im September 2002 wurde der elfjährige Jakob von Metzler, Sohn einer reichen, beliebten Frankfurter Familie, von Magnus Gäfgen entführt, der Lösegeld forderte. Damals wusste der Polizeivizepräsident sich nicht anders zu helfen, als Gäfgen Folter anzudrohen, um den Jungen zu finden, der zu diesem Zeitpunkt bereits tot war. Gäfgen reichte später Klage gegen die Gewaltandrohung ein und bekam eine Entschädigung von mehr als 3000 Euro zugesprochen. Auch wenn er in dieser Hinsicht im Recht war, riss das Urteil die Wunde erneut auf. Auch nach fünfzehn Jahren ist Magnus Gäfgen für viele Frankfurter Persona non grata Nummer eins in der Stadt.
Frankfurter OriginaleUm diese Liste für Dich, lieben Eingeplackten, nicht so düster enden zu lassen, reden wir lieber über die fern von Politik und Pop bekannten Frankfurter Gesichter. Zu den wahren Originalen der Stadt gehört der nackte Jörg, dafür bekannt, dass er nur mit Walkman und Schlappen unterwegs ist und dass er, bevor er sich auf eine Bank setzt, immer ein Taschentuch unterlegt. In letzter Zeit wurde er nur noch selten gesichtet und immer mal wieder wird in den Sozialen Medien über seinen Verbleib diskutiert. Aber Du weißt jetzt Bescheid: Wenn Du einen nackten Mann die Darmstädter Landstraße entlanglaufen siehst, dann darfst Du Dich ganz offiziell als echten Frankfurter bezeichnen.
Ein beliebtes Fotomotiv ist Emmanuel de Greco, den auch der Eingeplackte sofort an seinem extravaganten Kleidungsstil und vor allem an dem quietschbunten und reichlich mit Pelz, Plüsch, Plastikblumen und Puppen geschmückten Fahrrad erkennen wird. Natürlich sind Greco und Jörg nicht die einzigen Originale, denn Frankfurt strotzt vor skurrilen Persönlichkeiten. Lass mich raten, lieber Eingeplackter, vor Deinem Umzug hierher hast Du Frankfurt zumeist mit Banken in Verbindung gebracht? Vielleicht liegt es gerade an den Jörgs und Grecos dieser Stadt, dass auch Neu-Frankfurter nicht mehr gehen wollen.