Isabella Caldart

Journalistin, Kritikerin, Frankfurt/Barcelona

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Artikel

Journalismus - Veracruz: Ein mexikanisches Problem

253 Leichen - das ist die bisherige Bilanz des Massengrabs in Mexiko, das vor wenigen Tagen im Bundesstaat Veracruz ausgehoben wurde. „Veracruz ist eine riesige Grabstätte", sagt Jorge Winckler, der örtliche Staatsanwalt. Seit August 2016 wurden in Veracruz 125 zusammenhängende illegale Gräber entdeckt; 253 Tote ist dabei nur eine vorläufige Zahl, denn vollständig geöffnet sind viele der Massengräber noch nicht. Doch warum ausgerechnet in Veracruz? Ein Versuch, die Situation zu entwirren.


Beschönigte Zahlen?


Jährlich erhebt das Nationale Institut für Statistiken und Geografie (INEGI), wie viele Menschen in Mexiko ermordet werden. Die Zahlen sind alarmierend: 2014 fielen 20.010 Mexikaner einem Gewaltverbrechen zum Opfer, im Jahr darauf waren es schon 20.762 und während die Statistik vom INEGI für 2016 noch fehlt, so sprechen mehrere Medien von 20.792 Morden im vergangenen Jahr. Und erst im März erhöhte das von der mexikanischen Regierung ins Leben gerufene Register für verschwundene Personen die Zahl der Vermissten auf rund 30.000. Doch selbst diesen hohen Zahlen ist nicht zu trauen: Die NGO México Evalúa veröffentlichte vor wenigen Tagen ein umfangreiches Dossier, in dem die offiziellen Mordstatistiken angezweifelt werden. Laut México Evalúa verharmlosen mindestens zwölf Staaten ihre Zahlen - und das seit fünfzehn Jahren. Insgesamt sollen 23 Landesregierungen in die Manipulation verwickelt gewesen sein, darunter die des heutigen Präsidenten Peña Nieto, früher Gouverneur vom Estado de México, und die Javier Duartes, dem ehemaligen Gouverneur von Veracruz.


Die Gefahren Veracruz'


Veracruz gehört zu den gefährlichsten Bundesstaaten Mexikos. Die geografische Lage zwischen Mexiko-Stadt und dem Golf von Mexiko sowie der größte Hafen des ganzen Landes, macht diese Region für das organisierte Verbrechen attraktiv. Fidel Herrera, zwischen 2004 und 2010 Gouverneur von Veracruz, trägt laut unabhängigen Beobachtern einen Großteil der Schuld an der heutigen Lage: Er soll Los Zetas, eins der mächtigsten Drogenkartelle Mexikos, geradezu nach Veracruz „eingeladen" haben. Ihre Nähe zur Landesregierung machte es Los Zetas möglich, sich innerhalb kürzester Zeit in Veracruz zu etablieren. Seit einigen Jahren kämpft das Kartell gegen Jalisco Nueva Generación, das den Zetas ihre Vorherrschaft streitig macht. Die Leidtragenden dieses Kriegs zwischen den Kartellen sind zumeist Menschenrechtsaktivisten und Journalisten. Herreras Nachfolger Javier Duarte, der von 2010 bis 2016 Gouverneur von Veracruz war, tat wenig daran, die Situation zu verbessern. Im Gegenteil: Duarte wird inzwischen wegen seiner Verbindung zum organisierten Verbrechen, wegen illegaler Bereicherung und Geldwäsche in 190 Ländern von Interpol gesucht. Er ist seit Oktober 2016 untergetaucht.


Veracruz ist außerdem Teil der Hauptroute des „Todeszugs", auch La Bestia genannt. Dabei handelt es sich um einen Frachtzug, der von der mexikanisch-guatemaltekischen Grenze in Richtung USA fährt. Bis zu 1.500 illegale Immigranten aus Mittelamerika, vornehmlich aus Ländern wie El Salvador, Honduras oder Guatemala, reisen auf dem Dach des Zuges mit, um irgendwie in den Norden zu gelangen. Die Menschen sind zahlreichen Gefahren ausgesetzt: Wer einschläft und vom Zug fällt ist dem Tod geweiht, viele verlieren auf der wochenlangen Reise Körperteile oder verdursten. Schätzungsweise 60 % der Frauen werden vergewaltigt, zudem müssen die Menschen mit Entführungen rechnen: Für Drogenkartelle ist es ein lukratives Nebengeschäft, Lösegeld für die Verschleppten zu fordern. Wer nicht zahlt, landet im Massengrab.


Yunes Linares: Zweifel am neuen Gouverneur


Der ehemalige Gouverneur Fidel Herrera wurde 2013 vom Wirtschaftsmagazin Forbes zu den „Zehn korruptesten Mexikanern" gezählt. Das hielt den Präsidenten Enrique Peña Nieto allerdings nicht davon ab, Herrera zum Konsul zu ernennen und unbehelligt in Barcelona für die mexikanische Regierung arbeiten zu lassen. Im Januar 2017 kam der Vorwurf auf, krebskranke Kinder in Veracruz seien mit destilliertem Wasser statt Chemotherapien „behandelt" worden. Der neue Gouverneur von Veracruz, Miguel Ángel Yunes Linares, der seit Dezember 2016 im Amt ist, wies alle Anschuldigungen von sich und machte seine Vorgänger dafür verantwortlich; Fidel Herrera trat zurück.


Ob der aktuelle Gouverneur Yunes dafür geeignet ist, die angespannte Lage zu beruhigen, lässt sich bezweifeln. Im Jahr 2004 wurde ihm von der Journalistin Lydia Cacho zur Last gelegt, in ein Pädophilennetzwerk verstrickt zu sein. Daraufhin musste die Journalistin nach mehreren Morddrohungen das Land verlassen. 2013 wurde Yunes zudem von Manuel Espino, dem Minister der Kommission für Öffentliche Sicherheit, beschuldigt, sich illegal um mehrere Millionen Pesos bereichert zu haben, ohne Konsequenzen. Fast ist man gewillt, zynisch zu werden: Immerhin wurde während Yunes' knapp viermonatigen Amtszeit noch kein Journalist ermordet.


Journalismus in Mexiko: Ein tödlicher Job


Einer aktuellen Umfrage von Parametría zufolge, einer Firma, die sich auf statistische Erhebungen spezialisiert hat, haben 70 % der Mexikaner kein Vertrauen in die nationalen Zeitungen, ganze 83 % glauben nicht an den Wahrheitsgehalt mexikanischer Fernsehsendungen und 81 % nicht an die Radiosender. Dieses Misstrauen in gängige Medien ist nicht überraschend: Den zwei meistgelesenen Zeitungen des Landes, El Universal und Reforma, wird eine starke Tendenz zu den Parteien PRI beziehungsweise PAN angelastet. PRI, die „Partei der institutionalisierten Revolution", war von 1929 bis ins Jahr 2000 die dominierende Partei in Mexiko und wechselt sich seitdem mit der PAN, der „Partei der nationalen Handlung", ab. Die PRI stellt mit Peña Nieto den aktuellen Präsidenten. Übrigens: 88 % der Mexikaner halten laut Parametría die Arbeit als Journalist für „gefährlich".


Wie wahr. Wer in Mexiko über das organisierte Verbrechen berichtet, könnte sich genauso gut eine Zielscheibe auf die Stirn malen. Zwischen Januar 2010 und November 2015 wurden im Westen 150 Medienschaffende ermordet - ein Drittel davon allein in Mexiko. In der Rangliste für Pressefreiheit, die jährlich von Reporter ohne Grenzen aufgestellt wird, belegt Mexiko einen der letzten Plätze, aktuell 149 von 180, hinter Ländern wie Sri Lanka, Afghanistan, Venezuela oder Pakistan. Die NGO Committee to Protect Journalists (CPJ) listet insgesamt 41 Journalisten und Medienschaffende, die in Mexiko seit 1992 erwiesenermaßen aufgrund ihrer Berichterstattung ermordet wurden, bei 49 weiteren steht die endgültige Klärung des Falls noch aus. Der Großteil von ihnen (ca. 76 %) hatte über die Korruption berichtet. Seit der Wahl Peña Nietos zum Präsidenten im Jahr 2012 wurden in Mexiko bereits 28 Journalisten umgebracht, die meisten davon in Veracruz.

„Veracruz ist für Journalisten der gefährlichste Ort in der westlichen Hemisphäre. In den vergangenen sechs Jahren wurden dort mindestens 17 Journalisten wegen ihrer Arbeit getötet", so Christian Mihr, der Geschäftsführer von Reporter ohne Grenzen. In den vergangenen sechs Jahren, das bedeutet: Während der Amtszeit von Javier Duarte. 40 % der verschwundenen oder ermordeten Journalisten Mexikos stammt aus Veracruz, wie Reporter ohne Grenzen meldet. Kein einziger Fall der 17 unter Duarte ermordeten Journalisten wurde bisher aufgeklärt.


Rubén Espinosa und Pineda Birto: Zwei Tote unter vielen


Der Mord an dem Fotojournalisten Rubén Espinosa am 31. Juli 2015 erschütterte das ganze Land - wie immer allerdings nur temporär. Espinosa hatte kritisch über Javier Duarte und seiner Verbindung zu den Drogenkartellen berichtet. Nach zahlreichen Morddrohungen verließ er seine Heimat Veracruz, um in Mexiko-Stadt unterzutauchen; die Hauptstadt hatte bis dato als sicherer Hafen für verfolgte Journalisten gegolten. Auch aus diesem Grund schockierte Espinosas Tod. Wenige Wochen nach seiner Flucht wurde er zusammen mit vier Frauen im Viertel Navarte in Mexiko-Stadt tot aufgefunden. Sie waren gefoltert und vergewaltigt worden. Unter den vier Frauen befand sich auch die Menschenrechtsaktivistin Nadia Vera, die gemeinsam mit Espinosa aus Veracruz geflohen war. Die genauen Umstände ihrer Ermordung bleiben nach wie vor ungeklärt.


Gerade einmal zwei Wochen ist es her, seit zuletzt ein Journalist in Mexiko sein Leben lassen musste: Am Abend des 2. März wurde Cecilio Pineda Birto in Ciudad Altamirano, Guerrero, von zwei Männern auf einem Motorrad erschossen. Berichten zufolge trafen ihn mindestens zehn Schüsse. Pineda Birto war der Chefredakteur der Zeitung La Voz de la Tierra Caliente gewesen und hatte zudem für El Universal gearbeitet. Auch er hatte wiederholt über die Beziehung von Lokalpolitikern zu Drogenkartellen geschrieben. Guerrero gehört ebenfalls zu den gefährlichsten Regionen Mexikos. Der Bundesstaat geriet im September 2014 international in die Schlagzeilen, als dort 43 Studenten entführt wurden - ein weiterer Fall, der auf seine Aufklärung wartet.

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