Hotte Kriegel steht Wache vor der Hamburger St. Pauli Kirche. Nacht um Nacht wacht der frühere Kiez-Türsteher über den Schlaf der Flüchtlinge. Es kotzt ihn an.
Wenn Hotte wütend ist, geht die Welt um ihn herum in Deckung. Und Hotte ist verdammt wütend in dieser Nacht, fast ein Uhr, im Oktober, im Regen, in Hamburg, vor der St. Pauli Kirche. Drinnen brennt Licht und es lässt sich nicht abschalten, weil niemand weiß, wer es wie eingeschaltet hat. Es ist Schlafenszeit für die Flüchtlinge aus Lampedusa, die der Türsteher Horst «Hotte» Kriegel seit vier Monaten beschützt. Aber so wird das nichts.
Hotte verschwindet durch die riesige Kirchentür, kommt zurück, flucht weiter und marschiert wieder rein. Zwei seiner Helfer tauschen einen Blick, Gesichter reglos. Zehn Minuten später hat der Hüne das Problem gelöst - einfach mal alle Schalter durchprobiert - und sitzt in seinem Gartenstuhl, dreht sich eine Zigarette, entspannt sich. Es geht ja nur darum, dass die Jungs in Frieden schlafen können.
Hotte passt auf die Flüchtlinge in der St. Pauli Kirche auf. Er schlichtet Streit, schließt ihnen das Tor zum Kirchhof auf und hinter ihnen wieder zu, er kontrolliert die «Clubausweise». Er taxiert die Neugierigen am Eisentor des Kirchenplatzes, beobachtet Passanten. Er hält die Autos im Blick. 55 Jahre alt, ziemlich groß, Glatze, großer Kopf und dicker Hals auf breiten Schultern, Zigarette, Taschenlampe. Hier kommt niemand vorbei.
Seine Schützlinge sind die «Lampedusa-Flüchtlinge», die meisten kamen über Libyen aus Ghana, aus Mali. Männer, die Angst vor Hubschraubern haben, weil die sie an den Krieg erinnern, erzählt Hotte. Männer, die in Panik geraten, wenn sie von Polizisten an eine Wand gestellt werden, dann eingesperrt und befragt.
Ein Zimmer, ein Deutschkurs und Liebe, sagt Hotte.
Das fehlt ihnen zum guten Leben. «Hamburg verschwendet ein riesengroßes
Potenzial.» Es kotzt ihn an. «Die machen Jagd auf die Jungs. Ich schäme mich
für diese Stadt.»
Statt Deutschkurs, Liebe und Zimmer erleben die Flüchtlinge in diesen Tagen Bürokratie, Polizeikontrolle und Zelle. Hamburg muss komisch aussehen, aus ihrer Perspektive. Nette junge Männer, die lachen und reden. Die Besuch aus der Nachbarschaft bekommen: Jeden Morgen und jeden Abend trifft man sich im Hauptschiff der Kirche zu Kaffee, Tee und Kuchen, verständigt sich auf Englisch, Französisch, Deutsch, Lächeln, Zeichensprache, einfach machen, klappt schon. Gemeindemitglieder sind dabei, aber auch Leute, die vorbeikommen, weil sie neugierig sind. Ohne Tee und Kuchen kommt hier keiner raus. Viele kommen wieder und bringen etwas mit.
Hotte geht selten hinein, er harrt vor der Tür aus, im Schein der Kerzen, auf einem Schafsfell. Bis auch die letzten Helfer gegangen sind und die Flüchtlinge schlafen, dann bis zum Morgen, wenn die Nachbarn wiederkommen.
Und dann die Demonstrationen, tausende Menschen in den Straßen. Bengalisches Feuer, eingeschlagene Scheiben, Farbbomben im Namen der Männer, die in Erinnerung an den Krieg manchmal schreiend aufwachen. Holocaust-Überlebende, die irgendwas erzählen, das so ähnlich gewesen sein soll, wie die Lage der Flüchtlinge in der Kirche. Applaus, Applaus. Und die Polizeikontrollen: Selbst wer sich ausweisen kann, muss manchmal Stunden in Zellen verbringen, Fingerabdrücke und Fotos da lassen. Die Flüchtlinge klagen vor dem Verwaltungsgericht. Es geht allein ums Recht, sagt die Anwältin.
Hotte patrouilliert regelmäßig um die Kirche, verscheucht Betrunkene,
Neugierige, einmal zwei Kokser aus dem Gartenzelt der Flüchtlinge. Es regnet
ein wenig in dieser Nacht, und im Hafen jault eine Sirene. Sonst ist alles
ruhig. Hotte knöpft das Zelt auf, hält die Plane hoch.
Drinnen: zwei Kickertische, Fotos aus der Heimat und aus Hamburg mit lachenden
Gesichtern, selbstgezimmerte Holzbänke der Flüchtlinge, gemalte Bilder, eines
zeigt eine Kirche in schwarz-rot-gold.
Anfangs dachte er, die Flüchtlinge würden in Hamburg bedroht. Hotte hörte davon, dass sie in der Kirche leben, dass sie Angst
haben. Er sprach mit Pastor Sieghard Wilm, dann baute er sich vor der Kirche
auf, von Mitternacht bis zum Morgen. Er ging nach Hause, schlief ein paar
Stunden, und kam wieder. Das war im Sommer. Hotte ist
noch da. Nicht in jeder Nacht, aber fast, sitzt er in seinem Holzverschlag vor
der Kirche und wacht über den Schlaf der jungen Afrikaner. Den Rest erledigt
die «Doodle-Gang»: handverlesene Helfer, die an Hottes Seite, seltener an
seiner Stelle, Position beziehen.
Bedrohungen gibt es nicht. «Vielleicht weil wir hier sind, vielleicht
auch nicht», er sagt das so dahin, sein Gesicht verrät nichts. Jedenfalls
bleibt er. Warum eigentlich? «Es ist das Beste, das ich je getan habe.» Bei Hotte heißt das was, er hat eine Menge getan. Er hat Maßanzüge
verkauft, irgendwann Ende der 1970er Jahre. «Abends hab ich dann meine erste
Tür gemacht.» Er verkaufte Autos und Schmuck, er fuhr Kurier, er entwarf ein
Café und ließ es auch bauen, er zog Touristen beim Billard ab. Er vermarktete
Künstler, hatte zeitweise sogar eine Galerie, er tourte durch Europa. Er hat verarscht
und er wurde verarscht und er wurde dabei ziemlich alt für seine 55 Jahre. Die
Flüchtlinge, sagt er, erinnern ihn daran, wie viel Glück er habe. «Eine Lektion
in Demut.»
Zurzeit verdient er sein Geld mit Sicherheit. Er passt auf Leute auf, die es sich leisten können und die es verdient haben. Manche haben es auch nur verdient, wie die Flüchtlinge, wie Opfer von Stalkern. Dann geht es nicht ums Geld. Hotte sagt: «Das Leben ist eine Mischkalkulation.»
Und sonst so? Hotte fährt Motorrad, einen schweren BMW-Tourer, seine große Leidenschaft. «Keine Familie, keine Frau, sonst ginge das hier gar nicht.» Eine Frau hätte er aber gern wieder. Und eine neue Kuscheldecke, aber eine richtige, «Kamelhaar aufwärts». Und wenn er schon dabei ist, sich Dinge zu wünschen: «Die Hamburger könnten Patenschaften für Flüchtlinge übernehmen. Oder ihnen ein Zimmer geben. Das sind gute Jungs.»
Er selbst kann das nicht. Er muss erst einmal selbst eine neue Bleibe finden, für sich und sein Motorrad, natürlich auf St. Pauli. Hotte fliegt demnächst aus seiner Wohnung. Das Gebäude sei nicht mehr wirtschaftlich, sagt die Vermieterin; Hotte sagt: «Vertreibung.»
[Ungekürzte Fassung]
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