Muriel Asseburg: Die UN haben schon im Jahr 2014 aufgehört, die Toten in Syrien zu zählen. Mittlerweile dürften es daher vermutlich sogar deutlich mehr sein. Solange der Krieg weiter von außen mit Waffen und Geld gefüttert wird und Regionalmächte direkt militärisch eingreifen, wird er auch andauern. Das kann in der Tat noch ziemlich lange so weitergehen, wenn kein Interessenausgleich auf regionaler und internationaler Ebene gefunden wird.
Das Assad-Regime und Russland behaupten ja schon seit Mitte letzten Jahres, dass der Bürgerkrieg im Grunde beendet sei und es jetzt nur noch darum gehe, Terrorismus zu bekämpfen. Die Realität ist freilich anders: Das Assad-Regime und seine Verbündeten kontrollieren aktuell rund 60 Prozent des Territoriums. Das heißt aber auch: 40 Prozent sind eben nicht unter der Kontrolle des Regimes. Es gibt weiterhin Zonen im nordwestlichen und südwestlichen Syrien, sogenannte Deeskalationszonen, die unter Kontrolle der Rebellen sind. Kurdisch dominiert sind aktuell etwa 25 Prozent im Nordosten des Landes. Hinzu kommt, dass auch noch kleinere Gebiete unter Kontrolle des sogenannten Islamischen Staates sind. Das Assad-Regime ist jedoch fest entschlossen, das gesamte Staatsgebiet zu dominieren. Der Krieg ist also noch nicht ausgefochten.
Ich denke, davon sind wir - im günstigen Falle - noch ein bis zwei Jahre entfernt. Dass die Stabilisierung nachhaltig sein wird, ist aber fraglich.
Ich finde sie durchaus sinnvoll, weil es dabei auch um eine Regelung des Konfliktes geht. Für eine solche Regelung müssen ja Vorkehrungen getroffen werden, damit nicht nur die Waffen schweigen, sondern auch Frieden herrscht. Also muss zum Beispiel überlegt werden: Wie kann man nach solch grausamer Gewalt wieder friedlich zusammenleben? Wie kann man die einzelnen Bevölkerungsgruppen aussöhnen? Wie ist mit Kriegsverbrechern umzugehen?
Die Luftangriffe des Westens auf Syrien als Vergeltungsmaßnahme für den Einsatz von Chemiewaffen haben viel Kritik hervorgerufen. Wie schätzen Sie diese Maßnahme ein?
Meiner Meinung nach waren diese Vergeltungsmaßnahmen nicht sehr hilfreich. Es wäre sinnvoll gewesen, zunächst die Ergebnisse der Untersuchungskommission der Organisation für das Verbot chemischer Waffen abzuwarten. Der westliche Militäreinsatz gepaart mit den Verzögerungen und Maßnahmen von russischer Seite könnte dazu führen, dass man nun gar nicht mehr genau feststellen kann, was Anfang April in Duma passiert ist: Wurden überhaupt Chemiewaffen eingesetzt und wenn ja, von wem? Darüber hinaus ist es fragwürdig, wenn Staaten einen vermuteten Völkerrechtsbruch ahnden, indem sie selbst zu Maßnahmen greifen, die keine völkerrechtliche Legitimation haben.
Es sieht so aus, als ob eine größere direkte Konfrontation zwischen Israel und dem Iran zunächst abgewendet werden konnte. Nach wie vor besteht aber die Gefahr einer militärischen Auseinandersetzung, weil die beiden Parteien unvereinbare Ordnungsvorstellungen für Syrien haben.
Die bewaffneten Auseinandersetzungen sind wie gesagt noch nicht beendet, sowohl zwischen den syrischen Konfliktparteien als auch zwischen den internationalen Akteuren. Die Aushandlung einer politischen Konfliktregelung zwischen den syrischen Parteien halte ich aktuell für äußerst unwahrscheinlich.
Weil sowohl das Assad-Regime als auch ein Teil der Rebellen nach wie vor auf einen militärischen Sieg setzen. Auch wenn es zu einem Sieg des Regimes kommt, wird es keine nachhaltige Stabilisierung in Syrien geben.
Verstehen Sie mich nicht falsch: Das Ende des Krieges wäre ein riesiger Fortschritt gegenüber der jetzigen Situation. Natürlich muss das Ziel sein, so schnell wie möglich zu erreichen, dass die Waffen schweigen. Aber das ist nicht automatisch ein Garant dafür, dass Frieden herrscht. Das Regime ist zu einer verhandelten Konfliktregelung, die auch nur minimale Forderungen der Opposition aufnimmt, nicht bereit. Das hat es bei den von den UN geführten Gesprächen in Genf deutlich gezeigt. Hinzu kommt, dass das Assad-Regime sich im Bürgerkrieg sehr stark auf ausländische Kämpfer und einheimische Milizen stützt. Es wird schwierig sein, die wieder loszuwerden beziehungsweise zu entwaffnen. Meine Einschätzung ist, dass wir auch nach Kriegsende über lange Zeit eine Herrschaft von Milizen in Syrien beobachten werden.
Neben der Milizenherrschaft dürfte sich auch die Kriegswirtschaft fortsetzen, gepaart mit einem hohen Ausmaß an Korruption und Vetternwirtschaft. Das Regime wird versuchen, seine Kontrolle durchzusetzen, indem es zivilgesellschaftliche Initiativen und Opposition unterdrückt. Es wird rückkehrwillige Flüchtlinge und Binnenflüchtlinge nicht mit offenen Armen empfangen. Zu erwarten ist auch, dass aus den Überresten der Rebellengruppen und des IS eine neue Aufstandsbewegung entsteht. Der syrischen Bevölkerung steht eine schwierige Zeit bevor.
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