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Der Überfall am Norrmalmstorget - Das beste Alter

Eine vierteilige Serie über die Geschichte des Stockholm-Syndroms. Es sind erst zwei Teile online - Stand Dezember 2020

D er Begriff entstand nach einer Geiselnahme in Stockholm im August 1973. Besonders zum Ende der Geiselnahme hatten die vier Geiseln mehr Angst vor der Polizei als vor den Tätern. Sie setzten sich nach der Befreiung sogar für eine milde Strafe der Täter ein. Die Geiselnahme von Stockholm war ungewöhnlich, denn einer der Täter war bereits vorab für seinen Charme bekannt. Die Polizei wirkte zeitweise hilflos und der Regierungschef gab sich sarkastisch. All das kann in diesem Fall zur Entwicklung des Syndroms beigetragen haben.

Der Platz Norrmalmstorget liegt in einem der feinsten Viertel Stockholms. Hier leben Stockholms Promis, auch der Hof besitzt hier einige Wohnungen. Die Läden sind teuer, die Autos edel. 1973 lag an diesem Platz die Zentrale der Kreditbank.

Der August 1973 war warm, vom nahen Herbst war jedoch noch nichts zu spüren. Trotzdem fehlte die für Schweden so typische Leichtigkeit des Sommers. Das Land hatte Sorgen, denn König Gustaf VI. Adolf lag im Sterben. Seit Tagen war der alte Herr schon im Krankenhaus und die Ärzte wirkten nicht besonders optimistisch. Der König war immerhin schon 92 Jahre alt. Dass seine Tage gezählt waren, lag auf der Hand. Bald würde sein Enkel, der junge und noch unverheiratete Carl Gustaf König werden. Daran dachten viele Schweden, als sie am Donnerstag, dem 23. August 1973 morgens zur Arbeit gingen. Genau wie Sven Säfström, Birgitta Lundblad, Kristin Enmark und die Kassiererin Elisabeth Oldgren. Sie waren zwischen 21 und 32 Jahre alt und gehörten zu den jungen Mitarbeitern der Kreditbank am Norrmalmstorget. Um zehn Uhr morgens betrat ein Mann die Bank. Er trug eine Sonnenbrille, Handschuhe und eine braune Perücke. In einer Hand hielt er eine Aktentasche. Noch bevor er die Schalter erreicht hatte, zog er eine Maschinenpistole aus der Tasche, schoss damit gegen die Decke und rief auf Englisch: „Die Party hat begonnen! Alle auf den Boden!" Dann nahm er ein kleines Radio aus der Tasche und stellte laute Rockmusik ein.

„Die Party hat begonnen! Alle auf den Boden!"

Der Täter war Janne Olsson, ein Kleinkrimineller, der ein großes Vorbild hatte: Carl Olofsson, einen damals sehr bekannten Verbrecher, der zwischen seinen Haftstrafen der Presse gerne Interviews gab. Geld war bei diesem Überfall eher Nebensache und Mittel zum Zweck. Janne Olsson wollte in erster Linie Carl Olofsson befreien.

Die meisten Bankangestellten flüchteten, aber einige schafften es nicht und blieben in der Schalterhalle zurück. Janne befahl einen von ihnen, die drei jungen Frauen Kristin Enmark, Elisabeth Oldgren und Birgitta Lundblad zu fesseln. In diesem Moment betraten zwei Polizisten den Raum. Janne sprach weiterhin Englisch: „Are you a Policeman?" Der Polizist antwortete verdattert: „Yes, I am." Janne Olsson nahm seine Pistole und schoss - der Polizist stürzte schwer verletzt zu Boden. Sein Kollege stand hilflos daneben, und noch bevor er sich entscheiden konnte, was er tun sollte, schrie Janne ihn an: „Sing! Sing mir ein Lied vor." Als er sah, dass der Gangster mit der Waffe auf ihn zielte, begann er wirklich zu singen. Es wurde eine traurige Ausgabe von „I am a lonesome Cowboy".

Dann teilte Janne Olsson ihm mit, was er forderte: Clark Olofsson sollte umgehend aus dem Gefängnis befreit und in die Bank gebracht werden. Außerdem forderte er mehrere Millionen Schwedenkronen, einen Mustang als Fluchtwagen, schusssichere Westen, zwei Pistolen und Schutzhelme. Im Gegenzug ließ er außer den drei gefesselten Frauen am Boden alle anderen Personen in der Bank frei.

Die Polizei ging auf die Wünsche von Olsson ein. Ein Mustang wurde vor der Bank abgestellt, die erste Million der geforderten drei Millionen dem Gangster übergeben. Selbst Clark Olofsson wurde am Nachmittag von seinem Gefängnis in die Bank gebracht. Allerdings blieb er vorerst draußen in einem Polizeiwagen sitzen. Am Nachmittag ließ sich der Bankräuber über die Telefonzentrale mit dem damaligen Ministerpräsident Olof Palme verbinden. „Wenn ihr uns hier nicht unbeschadet rauslasst, werden die Geiseln nicht überleben", schrie er ins Telefon. Und damit ihm der Regierungschef auch glaubte, begann er Elisabeth Oldgren zu würgen

„In 45 Sekunden werde ich eine Geisel töten", rief Janne Olsson.

„In 45 Sekunden werde ich eine Geisel töten", rief Janne Olsson. „Ich möchte freies Geleit, ich möchte mit dem Mustang, in dem zwei geladene Pistolen liegen, wegfahren. Clark wird mich fahren, zwei Geiseln werden uns begleiten. Und wir werden die drei Millionen Kronen mitnehmen. Verstehen Sie, Palme? Jetzt sind schon 30 Sekunden vergangen, es sind nur noch 15 Sekunden übrig, dann töte ich sie. Zehn Sekunden, neun, acht, sieben ...." Palme sagte kein Wort, und auch Olsson schwieg und legte wieder auf, nachdem er den Countdown beendet hatte. Die Polizei wusste in diesem Moment, dass Olsson eine große Klappe hatte, aber auch Skrupel besaß. Ansonsten tat sie sich mit ihrer Einschätzung der Situation schwer. Denn die Polizei hatte keine Ahnung von der Identität des Täters. Deshalb ließ man nun Clark Olofsson in die Bank. Die Situation schien kritisch zu werden.

Clark Olofsson - der von den Plänen seines Kollegen keine Ahnung gehabt hatte und sich über die plötzliche Abwechslung in seinem Leben freute - schaute sich erst einmal in der Bank um. Gab es irgendwo noch Leute, die sich versteckten? Er fand einen jungen Mann, den Bankkassierer Sven Säfström. Janne Olsson hatte ihn bei seinen Runden übersehen.

Die Polizei hatte viele Forderungen nun erfüllt, wollte Olsson und Olofsson jedoch nicht so ohne Weiteres verschwinden lassen. Die Verhandlungen zogen sich über die ersten beiden Tage hin, zwischendurch bekamen alle was zum Essen und zum Trinken, man gab Interviews, stellte Forderungen und Gegenforderungen. Der Freitag war während des gesamten Geiseldramas der gemütlichste Tag mit einer fast schon entspannten Stimmung in der Bank, während draußen auf dem Platz die Polizei Strategien ausarbeitete und zahlreiche Journalisten gespannt der Entwicklung folgten. Es gab keine Nachrichtensperre - das Geiseldrama wurde zum Medienspektakel der 70er- Jahre. Und Janne und Clark verfolgten über ihr Transistorradio alles, was draußen über sie und die Geiselnahme berichtet wurde.

Dann klingelte Palmes Telefon ein zweites Mal. Nun war die Geisel Kristin Enmark am Apparat. „Ich bin wirklich enttäuscht von Ihnen, Olof Palme", sagte sie. „Mein ganzes Leben habe ich die Sozialdemokraten gewählt, und nun schachern Sie um unser Leben. Ich habe keine Angst vor den beiden Männern, nicht die geringste. Kann man uns nicht einfach wegfahren lassen, Clark, den Räuber und uns andere?" Olof Palme antwortete zynisch: „Es muss doch schön sein, wenn man auf seinem Posten sterben kann."

Die Polizei hatte das Gespräch mitgeschnitten. Der genaue Wortlaut wurde aber erst 30 Jahre später bekannt, als sich das schwedische Fernsehen noch einmal intensiv mit dem Geiseldrama beschäftigt. Vielleicht hat sogar dieser eine Satz Palmes dazu geführt, dass Kristin Enmark von nun an den Gangstern mehr Vertrauen schenkte als dem Regierungschef, der Polizei und dem Staat.

Es sollten noch drei dramatische Tage vergehen, bevor die Geiselnahme zu einem Ende kam.

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