John Ding hielt in der nördlichsten Ecke Deutschlands einen Workshop. Dafür nahm so mancher weite Wege in Kauf.
von Inga Kausch 30. Juli 2019, 12:30 Uhr
Niebüll |
Im Ausfallschritt stehend und mit aller Kraft stemmt eine zierliche Frau beide Hände gegen die linke Schulter des Mannes vor ihr. Plötzlich dreht er seine Schulter weg, sodass sie nach vorn taumelt. Ein paar Worte und ein Klaps auf den Rücken und der Nächste ist an der Reihe.
Was sich nach einer Gefahrensituation anhört, ist in der Realität Teil einer Selbstverteidigungs- und Kampfsportart: Tai Chi. Vergangenes Wochenende wurde dazu ein dreitägiger Workshop in der Sporthalle der Carl-Ludwig-Jessen Schule veranstaltet. Der weltbekannte Tai Chi Meister John Ding war extra aus London angereist, um mit fast 30 Tai Chi begeisterten Teilnehmern seine Kenntnisse zu teilen.
Tai Chi habe sich im Zuge der Globalisierung über die ganze Welt ausgebreitet, erklärt Ute Andresen. Sie organisierte den Workshop und leitet drei Tai Chi Schulen in Niebüll, Leck und Flensburg. Vor allem in den Industrienationen werde der chinesische Kampfsport immer mehr genutzt, um eine Balance zum stressigen Alltag herzustellen.
Sie versucht, das Gefühl von Tai Chi auf praktischem Wege zu vermitteln. „Wir arbeiten mit der Energie des Gegenübers. Jede Bewegung kommt aus dem Zentrum unseres Körpers. Wir gehen in die Bewegung hinein“, erklärt Andresen, die für den Kampfsport lebt. Hauptberuflich ist sie Ingenieurin, doch ihre wahre Berufung sieht sie in der Kampfkunst. Kontakt zu Meister John Ding hat sie schon lange und ist besonders stolz, dass er zum wiederholten Mal für den Workshop nach Niebüll gekommen war.
Trotz 30 Grad Celsius Außentemperatur ist es in der Sporthalle, die nun ein Raum der Achtsamkeit sein soll, gut auszuhalten. Alle verfügbaren Türen sind weit geöffnet und wer besonders achtsam ist, kann unter dem Stimmengemurmel und Lachen während den Übungen, das Rauschen des Windes in den Bäumen draußen hören. Dazu passt die Anweisung des Meisters: „Langsam. Keine zu schnelle Bewegung – nicht kämpfen.“
Er steht in der Mitte aller Teilnehmer und erläutert die Griffe und Denkweisen auf Englisch. „Ihr sollt lernen, nicht nur die Bewegung zu trainieren, sondern darauf zu hören, was ihr fühlt“, erklärt Meister John Ding die nächste Übung. Dabei strahlt er so viel Ruhe aus, dass man nur vom Zuhören schon ganz entspannt wird. Gleichzeitig hat er die Erscheinung einer Respektperson. Zum einen, weil er von allen „Meister“ genannt wird und zum anderen, weil er scheinbar nur mit Willenskraft dem Druck von drei Tai Chi Schülern gegen seine Schulter standhalten kann. Es folgen weitere Übungen mit einem Partner oder in der Gruppe, die immer von John Ding zu Beginn vorgeführt werden. Mal werden die Arme mit dem Partner verschränkt und dabei kreisförmige Bewegungen mit den Unterarmen gemacht, bevor einer den anderen sanft aber kraftvoll schubst, dann drücken sich die Partner gegenseitig in eine dicke Matte.
Einige der Teilnehmenden hatten weite Anreisen hinter sich und waren extra wegen Tai Chi Meister John Ding aus der Schweiz, Hamburg oder Holland angereist. So auch Oskar Pathuis. Er fährt sowieso einmal pro Monat nach Deutschland, weil er in seinem Heimatland keine Tai Chi Schule gefunden hat. „Tai Chi ist für mich eine Balance zum Alltag und dafür fahre ich auch gern mal sechs Stunden“, erklärt Pathuis.
Auch die 300€ für die Teilnahme am Workshop schien jeder der Teilnehmenden gern bezahlt zu haben. „Es lohnt sich auf jeden Fall. Wir können hier sehr viel lernen. Einen besseren Lehrer gibt es nicht“, schwärmt Studentin Annemarie Jessen aus Kiel. Ihre Tai Chi Partnerin Karin Gräber hatte erst vor einem halben Jahr mit Tai Chi begonnen und lernte schon in den ersten Trainingsstunden mit John Ding viel dazu.
Meister John Ding hat klare braune Augen und schaut nie weg, während er mit seinem Gegenüber spricht. „Tai Chi ist die Arbeit mit Menschen und Gefühlen. Es schärft die Sinne“, erklärt er. Zur Veranschaulichung soll der eigene Arm mit reiner Muskelkraft schräg nach oben gedrückt werden, während er den Unterarm festhält. „Wenn nur Muskelkraft verwendet wird, bricht die Struktur zusammen. Mit geradem Arm kann die Energie viel besser gespürt werden“, sagt er mit ruhiger Stimme. Bei regelmäßiger Übung könnten die Gefühle vom Tai Chi auch auf den Alltag übertragen werden, um im Endeffekt die ganze Lebenshaltung zu verbessern. Auch Ute Andresen ist es wichtig, dass Tai Chi nicht nur als Kampfsport angesehen wird: „Es ist eine Lebensphilosophie, in der es um Achtsamkeit und Körperbewusstsein geht!“
Die Veränderung der Denkweise durch Tai Chi gefällt auch den Flensburgerinnen Nikola Penker und Herdis Halvas-Nielsen. Die beiden sind seit 65 Jahren befreundet. Penker ist sehr sportlich und betreibt seit 1994 Tai Chi. Vor einiger Zeit konnte sie dann auch ihre Freundin für den Sport begeistern. „Am Anfang war mir das viel zu langsam, aber mit der Zeit merkt man, wie sich auch im Kopf viel verändert“, erklärt Halvas-Nielsen. Sie fühle sich selbstbewusster und gehe aufrechter. Besonders gut am Workshop gefielen den Flensburgerinnen die vielen Anwendungen und Variationen der Übungen. So hätten sie zwar sehr viel Geld für das Wochenende zahlen müssen, doch es würde sich lohnen und ein Workshop bei dem bekannten Meister sei schon sehr besonders.
John Ding wanderte mit seiner Familie während seiner Kindheit von China nach London aus. Er praktiziert Tai Chi seit vielen Jahrzehnten und gibt Workshops auf der ganzen Welt. Vor allem in Zeiten der Digitalisierung kämen immer mehr Geschäftsleute in seine Kurse, um Stress abzubauen und dem Alltag gelassener zu begegnen. „Tai Chi bringt den Geist und Körper in Einklang und davon profitiert die Gesundheit und Fitness“, erläutert John Ding. Niebüll gefällt dem Londoner auch sehr gut: „Ein wirklich schöner und ruhiger Ort!“
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