Supermärkte werfen Lebensmittel weg, die noch essbar sind. Nicht nur Bedürftige bedienen sich daran. Immer mehr Menschen greifen aus Überzeugung in den Abfalleimer.
Es ist still in der Samstagnacht, als Paula Reim ihr Fahrrad am Supermarkt in der Nähe der U-Bahn-Station Westend abstellt. Auf dem Gepäckträger klemmen mehrere Plastiktüten, auf dem Rücken trägt die Soziologiestudentin einen großen Trekking-Rucksack. Noch einmal erhascht Reim einen kurzen Blick auf die von Laternen schwach beleuchtete Straße. Niemand zu sehen. Reim atmet durch. Dann betritt sie die dunkle Auffahrt neben dem Supermarkteingang und biegt nach einigen Schritten links in den Hinterhof ab. Als sie mit der Taschenlampe auf den Hof leuchtet, erblickt sie inmitten von unzähligen Kisten, Pappkartons und Holzpaletten acht braune Mülltonnen.
Paula Reim ist eine „Containerin" oder auch „Mülltaucherin". So nennen sich Menschen, die in Abfallcontainern nach Essbarem suchen und damit den größten Teil des Nahrungsbedarfs decken. Die junge Frau, die ihren richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen will, macht das nicht, weil sie kein Geld hat. Für Reim - ungeschminkt, kurze Fingernägel - ist Containern eine Lebenseinstellung, sie will damit ein Zeichen gegen die weltweite Lebensmittelverschwendung setzen. Ein Kommilitone nahm sie vor fünf Jahren das erste Mal mit. Von ihm kennt sie alle guten „Container-Hotspots" in Frankfurt. Seitdem geht sie ein bis zwei Mal im Monat los, meistens samstagnachts. „Da schmeißen die Supermärkte oft besonders viel weg, was noch verwertbar ist."
„Containern ist wie Lotto spielen"Rund um die Uhr bieten Supermärkte die ganze Warenpalette an. Bis kurz vor Ladenschluss muss das Brot in den Regalen frisch sein. Alles muss perfekt aussehen. Ein brauner Fleck auf der Banane, eine Delle im Apfel, ein welkes Salatblatt - solche Produkte werden sofort aussortiert. Joghurtbecher fliegen oft schon zwei Tage vor Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums aus dem Kühlregal. Einige Lebensmittel werden sogar schon vernichtet, bevor sie überhaupt den Supermarkt erreichen. Nach Expertenansicht muss ein Bauer in Deutschland etwa die Hälfte der Kartoffeln bei der Ernte aussortieren und gleich wieder unterpflügen, weil sie in Form oder Aussehen nicht dem Industrie-Standard entsprechen. Auch jeder zweite Salatkopf und jedes fünfte Brot werden einer Schätzung zufolge weggeschmissen.
Möglichst leise öffnet die 26 Jahre alte Paula Reim den Deckel der vordersten Mülltonne und lugt hinein. „Containern ist wie Lotto spielen", findet sie. Einmal habe man Glück und dann wieder nicht. Gleich der erste Versuch ist ein Treffer: In der Tonne liegen eingeschweißte Champignons und Blaubeeren, dazu ein Dutzend Äpfel, Kohlrabi, Paprika und Brokkoli. Auf dem Boden rechts neben den Tonnen steht eine Kiste mit Papayas, Erdbeeren, Frühlingszwiebeln und Koriander. Auf dem weißen Klapptisch links von der Tonnen liegen rund zwei Dutzend Blumensträuße: rote, weiße und orangefarbene Rosen. Alle sehen frisch aus, sie sind teilweise noch nicht einmal aufgegangen. Die Mülltaucherin entscheidet sich für einen der roten Sträuße und steckt ihn in den Rucksack. „Vielleicht für Oma."
Die Hälfte landet im MüllAus der nächsten Tonne holt Reim eine Packung heller Trauben und drei Bund Möhren. Sie lächelt. Sie hat so viel gefunden, dass sie auch Freunden und Mitbewohnern davon abgeben kann. Trotzdem ist ihr beim Anblick des Tonneninhalts der Appetit vergangen. Denn viele der Lebensmittel, die sie da herausgefischt hat, sind einwandfrei, oft noch originalverpackt. Einige der Äpfel haben lediglich winzige braune Stellen. „Es genügt, in eine beliebige Supermarkt-Tonne zu schauen, um zu verstehen, in welch einer Wohlstandsgesellschaft wir leben."
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