Täglich kurz nach Mitternacht erschüttert eine Detonation die Stadt. Dann sprengt das staatliche Bergbauunternehmen Luossavaara-Kirunavaara-Aktiebolag (LKAB) gerade 8500 Tonnen Eisenerz aus dem Untergrund heraus. An der Oberfläche verschiebt sich dadurch die Erde, Risse entstehen. Zuerst war es kaum zu merken, aber inzwischen kommen die Verwerfungen dem Stadtzentrum von Kiruna täglich ein kleines Stück näher - und zwar schneller als noch vor wenigen Jahren gedacht. In etwa 20 Jahren wird diese Deformationszone nach aktuellen Messungen das Gebiet des Stadtzentrums zerstören. Noch vor zwei Jahren ging man von 25 bis 30 Jahren aus.
Die 23000-Einwohner-Stadt liegt 140 Kilometer nördlich des Polarkreises, unmittelbar am Rande der größten Eisenerzmine der Welt. Das Eisen-Flöz reicht vom nahe gelegenen Kirunavaara-Berg in einer vier Kilometer breiten, 80 Meter dicken Scheibe in einem Winkel von 60 Grad bis unter Kiruna - und soll immer weiter ausgebeutet werden. Kirunas Mittelpunkt muss also weichen, immerhin die Hälfte der bebauten Stadtfläche.
Vor zwei Jahren beschloss die Stadtverwaltung, dass alles, was den Kern der Stadt ausmacht, drei Kilometer weiter östlich neu entstehen soll. Dazu gehören die zahlreichen Innenstadtgeschäfte, Restaurants und Cafés, aber auch öffentliche Einrichtungen wie Bürgerhaus, Bibliothek, Schwimmbad, Schule, Krankenhaus, Bahnhof, Polizei- und Feuerwehrstationen. Auch die Bewohner der rund 3000 Wohnungen in den Hochhäusern am Rande der Innenstadt müssen umziehen. Nur die Villen- und Einzelhausgebiete am Nordostrand der Stadt bleiben verschont.
Es ist ein in Europa einmaliges Großunternehmen. Alle vom Zerfall bedrohten Häuser müssen abgerissen werden, denn man will keinen Zivilisationsmüll hinterlassen, nicht einmal, wenn die Erde ihn verschluckt. Die Ausnahme sind Gebäude, mit denen Kiruna seine Geschichte auch der Nachwelt erhalten will. Sie werden entweder demontiert und an neuer Stelle wieder zusammengesetzt oder in Gänze per Spezialtransport nach Neu-Kiruna verfrachtet - so etwa einige der historischen Arbeiterhäuser aus Holz aus der Gründerzeit um 1900 und vor allem die markante Holzkirche von 1912 in Form eines Lappenzeltes.
Für das ebenfalls denkmalgeschützte Rathaus ist es allerdings schon jetzt zu spät. Es liegt nur noch 250 Meter von der Bruchzone entfernt und wird in spätestens drei Jahren zusammenfallen. Noch kann die beredte Bürgermeisterin Kristina Zakrisson hier residieren. Aber sie weiß, dass jetzt alles schnell gehen muss. Gerade hat sie den Stadtplaner und Kulturgeografen Göran Cars von der Königlich Technischen Hochschule (KTH) in Stockholm engagiert, um die Mammutaufgabe des Umzugs zu organisieren. Ihr neuer Arbeitsplatz wird die Ostseite des neuen zentralen Markplatzes zieren - als eines der ersten Gebäude. 2018 dann soll das gesamte neue Stadtzentrum in seinen Grundzügen stehen, sodass die Einwohner dort einkaufen und Restaurants ihre Gäste bekochen können.
„Die Stadt soll aber vor allem auch attraktiv für neue Bewohner werden, kommunikativ, interessant und lebenswert", wünscht sich Zakrisson. „Wir planen das neue Kiruna als ‚grüne' Stadt, auch wenn wir wegen des Klimas sicherlich keine Passivhausstandards erreichen können wie in Mitteleuropa." Sie spricht deshalb auch lieber von einer „Stadtumwandlung" als von einem „Umzug". ( Hanns-J. Neubert) /
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