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Rassismus: Der Terror der anderen

In einer Nacht Anfang November detonieren mehrere Sprengsätze vor den Erdgeschossfenstern eines blassrosa gestrichenen Mehrfamilienhauses im sächsischen Freital. Das Gebäude liegt an einer Ausfallstraße umgeben von Tankstellen und Supermärkten. Im ersten Stock wohnt eine deutsche Familie, darunter sind Flüchtlinge einquartiert. Die Explosionen sind so gewaltig, dass die Glasscheiben zerbersten und Teile des Mauerwerks herausbrechen. Splitter fliegen quer durch die Zimmer bis auf die Betten der Flüchtlinge. Es ist Zufall, dass nur ein Mensch verletzt wird, ein Syrer.

Die Ermittler zählen Timo S. zu den Attentätern. Er ist Busfahrer, ohne Vorstrafen und war den Behörden nie zuvor als Rechtsradikaler aufgefallen. Ein bis dahin unbescholtener Bürger aus der Mitte der Gesellschaft. So stellt es die zuständige Staatsanwaltschaft dar. Doch das stimmt nicht, wie Recherchen von ZEIT ONLINE belegen. Nicht in diesem Fall und auch nicht bei vielen anderen Anschlägen auf Flüchtlingsunterkünfte im vergangenen Jahr.

279 Mal wurden in Deutschland im Jahr 2015 Flüchtlingsunterkünfte angegriffen. Das sind alle Attacken, bei denen Menschen zu Schaden gekommen sind oder zu Schaden hätten kommen können. Schmierereien, Propagandadelikte und Pöbeleien wurden beiseite gelassen. Die Unterkünfte wurden mit Steinen, Böllern und Brandsätzen beworfen, mit Stahlkugeln und mit scharfen Pistolen beschossen, mit Sprengkörpern attackiert, unter Wasser gesetzt.

"Wir müssen zeigen, dass wir aus dem NSU gelernt haben."

Ein Team von ZEIT-ONLINE-Redakteuren hat in den vergangenen sechs Wochen alle 279 gewaltsamen Übergriffe auf Flüchtlingsunterkünfte überprüft und jene 65 Fälle einer genaueren Recherche unterzogen, in denen die Ermittler einen Tatverdächtigen ausfindig machen konnten.

Noch in der ersten Jahreshälfte lag die Zahl der Attacken bei weniger als 20 pro Monat. Im Oktober jedoch gab es bereits 38 Angriffe, im Dezember waren es schon 53, im Januar dieses Jahres sogar 73. Gerade erst brannte wieder eine Flüchtlingsunterkunft nieder, diesmal in Bautzen. Johlende Schaulustige behinderten die Löscharbeiten.

Wer sind die Täter? Und wieso können die Sicherheitsbehörden die Taten nicht verhindern oder wenigstens aufklären?

Im vergangenen Herbst verbreitete sich in der politischen Debatte die Erklärung, man habe es bei einem Großteil der Fälle mit einem neuen Tätertyp zu tun: bisher unbescholtene Bürger aus der Mitte der Gesellschaft, Ersttäter ohne Vorstrafen, ohne Verbindungen in die rechte Szene, die weder dem Verfassungsschutz noch dem polizeilichen Staatsschutz je aufgefallen seien. Man könne sie deshalb vorher nicht beobachten, ihre Taten nicht vorhersehen.

Dieses Bild geht zurück auf Statistiken des Bundeskriminalamtes (BKA). Die rasant ansteigende Zahl von Angriffen auf Asylunterkünfte hatte auch die Fachleute im BKA alarmiert. Das Amt zählte im vergangenen Jahr 1.029 Straftaten gegen Einrichtungen für Flüchtlinge, von an die Wand geschmierten Hakenkreuzen bis zu Sprengstoffanschlägen. 2014 waren es hingegen 199 Taten gewesen. Im Herbst 2015 vermerken die Beamten in einem vertraulichen Lagebild eine zunehmende Zahl von Tätern, die der Polizei bis dahin noch nie aufgefallen waren. Das BKA nennt sie "emotionalisierte Einzeltäter", die "keine ideologische Anbindung an rechte Strukturen haben". Die Zahl ist seither noch gewachsen. Im Lagebild vom Januar 2016, das ZEIT ONLINE vorliegt, steht, von über 47 Prozent der Tatverdächtigen des Jahres 2015 hätten Polizei und Staatsschutz vor der Tat keine Angaben gehabt. Im Lagebild vom vergangenen Herbst war das bei 31 Prozent der Fall.

Bundesinnenminister Thomas de Maizière und Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen sehen das als Beleg für eine Radikalisierung der gesellschaftlichen Mitte. "Es ist erschreckend, dass die Gewalt teilweise bis in die Mitte der Gesellschaft kriecht", sagt der Innenminister beispielsweise im . Maaßen warnte auf einer Tagung im Februar in Berlin, es sei eine "große Gefahr", wenn die "Gewaltbereitschaft bis ins Bürgertum eindringen" könne.

Viele Medien griffen die These von der gewalttätig gewordenen Mitte auf, auch ZEIT ONLINE. Als Beleg dienen die immer gleichen Fälle: der Feuerwehrmann Dirk D. aus Altena, der Dachbalken im Nachbarhaus anzündete, nur Stunden nachdem dort Flüchtlinge eingezogen waren. Der Finanzbeamte Kim M. aus Escheburg bei Hamburg, der Kanister mit Farbverdünner in eine noch unbewohnte Unterkunft warf und brennende Streichhölzer hinterher. Zwei Musterbürger, die aus Angst vor den Flüchtlingen in ihrer Nachbarschaft zu Brandstiftern wurden.

Doch sind Fälle wie diese wirklich typisch?

Recherchen von ZEIT ONLINE zeigen, dass die These vom neuen Tätertyp so nicht stimmt. Vielmehr geht die Gewalt oft von Menschen aus, die schon vorher extrem rechte Ideen pflegten. Viele von ihnen sind keine organisierten Neonazis, keine bomberbejackten Skinheads, keine eingetragenen NPD-Mitglieder, keine Kameradschaftsaktivisten. Aber sie hängen einer rassistischen, ausländerfeindlichen und extremistischen Ideologie an und fühlen sich von ihr zum Handeln aufgefordert. Es ist keine neue Mitte, die Flüchtlinge jagt. Vielmehr radikalisieren sich Einzelpersonen und kleine Gruppen unabhängig von rechtsextremistischen Organisationen. Gestützt und getragen von der aggressiven öffentlichen Debatte steigern sie sich in Hass hinein und wenden schließlich Gewalt an. Sie wollen Angst und Schrecken verbreiten. Dafür nehmen sie sogar Tote in Kauf.

Kann man Gesinnung ermitteln?

Nur sehr wenige von ihnen sind keine Neonazis - es sind einige Serienbrandstifter und einige psychisch Kranke unter den Tätern. Dazu kommen tatsächlich einige brandstiftende Musterbürger wie der Finanzbeamte aus Escheburg. In der Mehrzahl der ZEIT ONLINE namentlich bekannten Verdächtigen jedoch finden sich Indizien dafür, dass sie rechte Ideologien und Kontakte pflegen, obwohl sie in der Statistik als unbescholtene Bürger gelten.

Die BKA-Theorie fußt auf den Daten von Polizei und Verfassungsschutz. Wer dort nicht auftaucht, weil er nie gefasst oder aus Datenschutzgründen wieder gelöscht wurde, gilt als unauffällig. Das ist fachlich korrekt, verzerrt aber vermutlich das Täterbild und damit die politische Analyse. Das ist nicht die Schuld des BKA. Die Beamten können nur zählen, was ihnen aus den Bundesländern mitgeteilt wird und was Gerichte verurteilen. Sie registrieren Taten und Strafen, keine Gesinnungen. Daraus jedoch abzuleiten, dass all diese Täter keine Rechtsextremen sind, ist gewagt.

Trotzdem scheinen viele Polizisten und viele Staatsanwälte diese Sicht zu übernehmen. Die Bundesländer sind offensichtlich nicht erpicht darauf, mit vielen Fällen in der Rechtsextremismus-Statistik vorzukommen. Anders lässt sich kaum erklären, dass selbst der Brandanschlag auf die geplante Asylunterkunft im sachsen-anhaltinischen Tröglitz im April 2015 nicht als rechtsmotivierte Straftat eingestuft wird, sondern in der Kategorie Sonstige verschwindet.

Spätestens die Staatsanwaltschaften aber müssten den Hintergrund der Täter ermitteln, sie müssten Indizien für oder gegen eine rechte Gesinnung sammeln. Längst besteht gesellschaftlicher Konsens, rechtsextreme Gewalt als solche zu benennen und "mit der ganzen Härte des Rechtsstaats" zu bestrafen. Sachsen-Anhalts Innenminister Holger Stahlknecht (CDU), früher selbst Staatsanwalt, sagt beispielsweise, die Tatsache, dass eine Tat politisch motiviert begangen wurde, sei im Strafgesetzbuch zwar nicht normiert. "Aber es muss natürlich bei der Strafzumessung eine besondere Rolle spielen, welche Motive hinter der Tat stecken." Denn es spreche besonders gegen einen Täter, wenn er andere aus rassistischen Beweggründen angreife oder umbringe.

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