Der Mann mit dem verklebten Bart und den filzigen Haaren hat es sich gemütlich gemacht. Er liegt längs auf einer der zwei Banken an der Haltestelle Mierendorffplatz in Berlin-Charlottenburg. Mit dem Rücken lehnt er an einem grünen Kasten Bier, vor der Bank stapeln sich voll gestopfte Discounter-Plastiktüten, an der Wand steht sein Fahrrad. Weder er noch das Velo machen einen fahrtüchtigen Eindruck. Der Mann pöbelt vor sich hin, kommentiert laut die Vorbeigehenden, die Wartenden, das Wetter, das Leben, sein Bier.
Das Charlottenburger Publikum ist genervt. Es nieselt. Das Freitagabend-Make-up verläuft langsam. Man ist mit Weißwein und Glitzerlidschatten auf dem Weg zur Party. Zerstreuung ist das Ziel des Wochenendes. Keiner will sich mit dem Mann auseinandersetzen, der da liegt und keine Pläne hat. Kollektives Weggucken, Weghören, Warten auf den Bus Richtung Pankow. Noch drei Minuten.
Die Einzige, die nicht wegsieht, ist eine kleine, rundliche Frau. Sie hat braune Augen, trägt einen weiten Mantel und ein schwarzes Kopftuch. Immer wieder dreht sie sich nach dem Mann um. Irgendwann holt sie den Geldbeutel aus ihrer Jackentasche, geht zu ihm und drückt ein paar Münzen in seine Hand. Dabei guckt sie ihm in die Augen. Und lächelt. Unter dem verklebten Bart und den filzigen Haaren hellt sich das Gesicht des Mannes auf.
„Möge Gott die Hand schützend über Sie halten", ruft er voll Pathos und Dankbarkeit, schwingt dazu ausladend sein Bier. Ein paar Tropfen davon fliegen durch die Luft. Dann hält er kurz inne, zieht die Stirn kraus und sagt leiser mit fragendem Blick auf das Kopftuch. „Ich hoffe, das klappt überhaupt." Die Frau hört das nicht mehr oder will es nicht hören. Der Bus ist da, die Wartenden steigen ein. Der Mann bleibt allein zurück. Seine Frage hängt unbeantwortet im Charlottenburger Nachthimmel.
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