Legenden haben oft einen wahren Kern. Geschichten über Meerjungfrauen folgen der Erzählung der ewig Verdammten im Wasser. Sie kann nur durch die Liebe eines Mannes erlöst werden, der an Land lebt. Die englische Schriftstellerin Monique Roffey hat sich in ihrem sechsten Roman "Die Meerjungfrau von Black Conch" von diesem Mythos inspirieren lassen und verflechtet ihn humorvoll mit den Folgen der Kolonialgeschichte und dem Wirrwarr menschlicher Gefühle.
Vor der Küste von Black Conch, einer imaginären Insel in der Karibik, bekommen 1976 zwei weiße Touristen und eine Crew von schwarzen Seeleuten eine Meerjungfrau an den Angelhaken und verschleppen sie an Land. „So nah, sie war erschreckend, eine Person da, kein Zweifel; eine gefangene und sterbende Frau.“ Die Fischer von der Insel sind entsetzt, „ein Gefühl der Blasphemie“ breitet sich unter ihnen aus, doch die amerikanischen Touristen sehen die Dollarzeichen vor sich, trachten nach Ruhm und Reichtum. Im letzten Moment rettet David, ein junger Fischer, die Meerjungfrau Aycayia. Schon einmal war er ihr begegnet, "der Magen zitterte ihm vor Begehren und Angst". So schnell wie möglich will er sie wieder dem Meer überlassen, doch dann beginnt, in seiner Badewanne, bereits die Verwandlung.
In retrospektiven Tagebucheinträgen, aufgeschrieben im rhythmischen Inseldialekt, taucht man in Davids Sehnsüchte und Ängste ein. Er unterstützt Aycayia bei ihrer schmerzhaften Transformation zur Menschenfrau und verliebt sich in sie. Ihre rötliche Haut, die sonderbaren Tätowierungen, David erkennt, dass sie aus einer anderen Zeit stammt. Als indigene Frau von quälender Schönheit verfluchten sie andere eifersüchtige Ehefrauen auf Lebzeiten. Aycayias Stimme erscheint im Buch in Versform. Sie quält die jahrhundertelange Einsamkeit der See, gleichzeitig erlebt sie eine neue Gefühlswelt mit David. Doch sie ist auf ewig verdammt, Unwetter und die kreischenden Stimmen jahrhundertealter Göttinnen durchrütteln die Insel. Es erinnert an die Erzählung der Sirenen in der Odyssee. Aycayias Schönheit wird ihr abermals zum Verhängnis.
"Die Meerjungfrau von Black Conch" ist ein Buch mit vielen Geschichten, die aufgrund der Perspektivwechsel auf wenigen Seiten viel ermöglichen. Aycayia steht für unterschiedliche Ideen von Weiblichkeit. Feministische Lesarten, aber auch die Narben des Kolonialismus werden zart angedeutet. Die Versuche, eine explizitere Bedeutung aufzuzeigen, wirken manchmal etwas verkürzt. Am Ende sind es vielleicht doch zu viele Charaktere und Geschichten auf einmal.
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