Lilienthal. In der Nacht zu Donnerstag hat der russische Staat beschlossen, dass Mariia Rohova nicht mehr zu ihrer Familie in der Ukraine zurückkehren kann. Die 20-Jährige hätte am Freitagabend wieder zu Hause in Kiew sein sollen. Ein ganzes Jahr hat sie als Au-pair bei einer Familie in Lilienthal verbracht. Ihr Visum ist nun abgelaufen. "Die letzten Tage hatte ich sehr viel Angst. Ich habe nicht verstanden, was ich machen soll. Jetzt hat die Welt entschieden, dass ich leider nicht mehr nach Hause gehen kann."
Überall Panik
Rohovas Gedanken wirbeln ununterbrochen im Kreis. Einerseits ist sie froh: "Ich weiß, dass ich hier sicher bin und dass es keinen Krieg gibt." Andererseits hat sie Angst: "Es gibt eine Riesen-Panik überall. Meine Familie und meine Freunde sind immer noch in der Ukraine." Alles ging sehr schnell, alles erscheint ihr unwirklich: "Ich kann mir immer noch nicht vorstellen, dass das gerade passiert."
Was zurzeit funktioniert, ist der Kontakt zu ihrer Familie, die im kleinen Ort Irpin nahe Kiew lebt. "Ich versuche immer, im Kontakt mit meiner Familie zu sein. Ich frage einfach: Wie gehts? Was ist jetzt los? Sie antworten: Alles gut, oder: Es ist etwas passiert." So bekommt Rohova mit, dass russische Kampfflugzeuge versuchen, den nahe gelegenen Militärflugplatz Hostomel einzunehmen. "Die ukrainische Seite konnte sich bisher verteidigen", so berichtet es ihre Familie am Donnerstagnachmittag. Am Freitagmorgen melden die Nachrichtenagenturen, dass auf dem Flugplatz gekämpft wird. Rohovas Familie hält sich im Keller versteckt.
Kilometerlange Autoschlangen
Ihre Eltern sowie ihre Schwester und deren Mann haben entscheiden, die Stadt zunächst nicht zu verlassen. "Überall gibt es kilometerlange Autoschlangen. Es ist gefährlicher, im Auto zu schlafen als im Keller", sagt Rohova. Was danach komme, sei ungewiss. Unweigerlich gebe es den Gedanken: "Wenn es in der Ukraine gefährlich bleibt, müssen sie natürlich raus." Allerdings meldet die ukrainische Regierung am späten Freitagabend, dass männliche Staatsbürger im Alter von 18 bis 60 Jahren das Land nicht verlassen dürfen, um stattdessen die Armee zu unterstützen. Rohovas Vater und Schwager würden somit wahrscheinlich an der Grenze abgefangen werden. Nichtsdestotrotz denkt Rohova darüber nach, ihre Familie zu sich zu holen. "Deutschland ist so stabil. Für mich ist das sehr wichtig, dass es keine Schaukel ist wie zu Hause."
Aufgewachsen im Donezk
Die Schaukel steht für zahlreiche Umzüge und Schulwechsel, die Rohova hinter sich hat. Sie ist in Horlivka aufgewachsen, einer Stadt im Donezk, die 2014 von prorussischen Separatisten erobert wurde. Zunächst vertraute die Familie darauf, dass es zu keinem bewaffneten Krieg kommen würde. Doch sie irrten sich. "Ich war noch in der Schule, als meine Mama mich anrief und sagte: Kannst du bitte nach Hause kommen. Wir fahren in den Urlaub", so beschreibt Rohova den Tag, als ihre Familie beschloss, zu fliehen. "Ich konnte das alles noch nicht verstehen. Ich war erst zwölf", sagt sie. Die Familie kommt zwischenzeitlich bei Verwandten in Russland unter, dann leben sie fünf Jahre in einem Ferienhaus in der Ukraine bis sie schließlich nach Kiew ziehen, wo Rohova ein Studium beginnt. "Dieser Urlaub dauert jetzt schon acht Jahre", sagt sie. Und nun schon wieder Krieg, die Wiederholung eines Traumas. "Die Situation hat mich sehr stark getriggert", sagt Rohova, die bereits Therapieerfahrung hat.
Zurzeit kann Rohova ihr Smartphone kaum aus der Hand legen. Viele ihrer Freundinnen und Freunden nutzen Instagram, um über ihre aktuelle Situation zu berichten. Sie verwenden die sozialen Medien jedoch auch, um aufzuklären, zum Beispiel mit dem Hashtag openyoureyes (Öffne deine Augen). "In Russland glauben viele Menschen, dass das alles richtig ist. Junge Ukrainer versuchen zu erklären, dass es einen echten Krieg gibt, bei dem Menschen sterben", sagt Rohova. Außerdem gebe es Aufrufe, die ukrainische Armee über einen Fond zu unterstützen. Über allem schwebe jedoch die mehrheitliche Forderung von jungen Menschen: "Wir möchten keinen Krieg haben."
In Lilienthal geht es Rohova gut. "Ich fühle mich wohl hier. Die Menschen sind nett", sagt die 20-Jährige. Sie hat viele internationale und deutsche Freundinnen und Freunde gefunden. Mit Unterstützung ihrer Gastfamilie versucht sie nun, ihr Au-pair-Visum zu verlängern. "Wir werden sie natürlich nicht im Stich lassen. Wir haben am Donnerstag gemeinsam beim Ausländeramt den Antrag auf Verlängerung des Visums gestellt. Daraufhin haben wir eine mündliche Zusage bekommen, dass sie nicht ausreisen muss und dass der Au-pair-Aufenthalt vermutlich um drei Monate verlängert wird", berichtet die Gast-Mutter. Im nächsten Schritt würden sie einen Antrag für einen Wechsel der Au-pair-Familie stellen.
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