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Auf den Spuren jüdischer Vorfahren

Herdecke. „Ralph! Look at this", schallt es am Samstag mehrfach durch die Herdecker Altstadt. Immer wieder zückt Ralph Lee auf Wunsch seiner Frau Eva den Fotoapparat, lichtet Gebäude und Straßenschilder ab, die die Wurzeln ihrer jüdischen Familie in Herdecke dokumentieren. Denn nach dem Eintrag ins Goldene Buch der Stadt ging es für die Besucher aus Dresden, Dortmund, Birmingham und den USA auf eine Stadtführung.


Stolpersteine

Stolpersteine vor dem ehemaligen Haus der Familie Grünewald in der Hauptstraße zeigen, dass hier Paula, Sally und Heinz Grünewald gelebt haben. „Was für ein großes Haus, ich hatte ja keine Ahnung", sagt Eva Lee, eine Nichte von Paula Grünewald, und deutet mit großen Augen immer wieder zu den Fenstern in der oberen Etage. Dann entdeckt sie die Sally-Grünewald-Straße und hat Tränen in den Augen.

Sie erzählt die Geschichte von Heinz Grünewald, ihrem Cousin, den ihre Eltern in die USA holten. „Er war psychisch in keiner guten Verfassung. Er war Schneider, doch im KZ sind ihm seine Fingerspitzen abgefroren." Und sie fügt hinzu: „Er hatte Schreckliches gesehen, Eltern und Finger verloren, was sollte er machen?" Der Herdecker Heinz Grünewald ertränkte sich 1954 im Alter von 36 Jahren im East River.


„Ein arrivierter Bürger"

Historiker Willi Creutzenberg sagt über Moritz Blumenthal: „Er war ein sehr bekannter Metzger, Kassierer beim TSV Herdecke und gesellschaftlich aktiv". Blumenthal hatte fünf Kinder, von denen sich vier nach England retten konnten, der fünfte aber, Max Blumenthal, wurde in Sachsenhausen erschossen.

Jane Barry, eine Nachfahrin von Moritz, lebt heute in Birmingham und besucht Herdecke zum ersten Mal. Das Haus der Blumenthals steht noch immer in der Hauptstraße. „Max Blumenthal, der in Berlin festgenommen und anschließend erschossen wurde, war mein Großonkel", sagt sie, zeigt Schwarz-Weiß-Fotos von ihm und anderen deutsch-jüdischen Verwandten herum, die sie mit ihrem Handy abfotografiert hat; vielleicht an genau der Stelle, wo ihre Vorfahren vor vielen Jahren auch gestanden und sich mit Nachbarn unterhalten haben.

„Auf der Liste der Verstorbenen aus dem Jahr 1935 des Nachbarschaftsvereins, in dem Moritz Blumenthal aktiv war, taucht er nicht einmal auf, obwohl er in dem Jahr starb. Da frage ich mich, was diese Nachbarschaft wert war", so Willi Creutzenberg.


Bindeglied

Barbara Samuel sieht sich als Bindeglied zwischen damals und heute. Als Enkelin der in Herdecke geborenen Johanna Samuel (geb. Baum) berührt es sie, durch Herdecke zu gehen. Die Dortmunderin hat fast ihre gesamte Familie durch die Nazis verloren und möchte der Jugend von heute etwas mit auf den Weg geben. An einer Schule in Dortmund-Hörde versucht sie, die Kindern für das Grauen und den Schrecken der Nazis zu sensibilisieren. „Mit meiner Vergangenheit kann ich nicht anders, als zu versuchen, etwas weiterzugeben."


Lücken schließen

Johanna Stoll wollte spätestens seit der Wende mehr über ihre Familie wissen. Die gebürtige Dresdenerin recherchierte, schrieb Archive an und studierte Dokumente. „Doch alle Wege endeten in den Lagern", sagt sie. „Das war schwer erträglich." Dann aber erfuhr sie von Klara Marx, ihrer Großtante, die lange in Herdecke lebte. Dort besucht sie jetzt die Gräber der Familie Marx, legt einen Stein auf das von Lotte Marx, einer Tochter von Klara, die bereits mit 25 Jahren starb. Da Johannas Mutter keine Jüdin war, sondern nur ihr Vater, galt sie nicht als Jüdin, bis sie konvertierte. „Ich wollte diesen Teil meiner Identität und Familie nicht in den Lagern enden lassen", sagt sie.

Hanna Voß

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