Im Frühling, als die Corona-Pandemie über uns hereinbrach, interessierten sich die wenigsten Menschen dafür, auf welchen Sohlen sie diese Zeit durchstehen würden. Flach, hoch, eng, rote Sohle, Leder, Sneaker, Absatz? Wichtig war ab April erst mal nur, ob die Schuhe zum Social-Distancing-Spaziergang taugten. Ansonsten wurden Pantoffel getragen. Zoom-Calls enden auf Brusthöhe.
Dann kamen der Sommer und die Corona-Lockerungen. Unsere Schuhgarderobe wurde sehr übersichtlich: Ein paar Birkenstocks reichte für alle Anlässe.
Sind schicke Schuhe also ein Opfer der Pandemie geworden? Ebenso wie Bleistiftröcke und BHs? Geht es nur noch um die anspruchslose Entsprechung von Mode, mit Zoom-Hemd und Jogginghose? Nein. Der Herbst bringt nämlich etwas schon verloren Geglaubtes zurück: das It-Piece. In diesem Fall den It-Schuh, ein Modell, das ikonisch die Bedürfnisse des Moments an Schuhwerk auf sich vereint.
Für das aktuelle Jeder-will-es-haben-Modell ist der Begriff "Schuh" allerdings ein Understatement. Denn die klobigen, schwarzen Objekte an den Füßen von Bella Hadid, Hailey Bieber und so gut wie jedem, der für Instagram-Beiträge kostenlose Designerhandtaschen bekommt, sehen nicht mehr aus wie ein Fashion-Accessoire, sondern eher wie die Postapokalypse.
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Derbe Schnürstiefel oder Chelsea Boots mit dicker Sohle und einem Profil so massiv wie Traktorreifen sind jetzt Trend, und das exemplarische Modell, von dem sich nun alle inspirieren lassen, stammt von Bottega Veneta und kostet 850 Euro.
Teuer ist er also immer noch, aber irgendwie auch anti. Denn seine Massigkeit wirkt, als würde man mit nur einem Tritt etliche Louboutins zermalmen können. Wenn man sich die neuen Boots anschaut, dann steht fest, dass sie als Symbol perfekt in unsere Zeit passen. Gerade ihr martialisches Aussehen passt zu aktuellen Gefühlen. Die Welt wird schließlich als zunehmend feindlich wahrgenommen - wer weiß schon, hinter welcher Ecke, auf welcher Oberfläche, in welchem Hustenaerosol das Virus lauert, wann die nächste Welle schwappt, wann die Mehlregale wieder leer sind? Außerhalb der eigenen vier Wände ist irgendwie alles Gefahrenzone.
Wenn schon raus, dann lieber auf dicken Sohlen. Dieser Schuh will nicht gefallen, er will sich behaupten. Er ist Teil der neuen Uniform: oben Maske, unten Kampfstiefel.
Die Abkehr vom grazilen Fußwerk ist aber nicht nur eine Antwort auf die Pandemie, sondern auch Ausdruck eines gesellschaftlichen Wandels. Er ist feministischer Fortschritt in Schuhform. Denn nicht nur lässt er schon rein optisch Genderkonventionen hinter sich, er steht auch für etwas, was modische Veränderungen schon länger antreibt, nämlich der Wunsch von Frauen nach mehr (Bewegungs-)Freiheit.
Für die an dieser Stelle mit den Augen rollenden Leser: Schuhe sind politischer, als Sie vermuten. Im 19. Jahrhundert noch waren Frauenbeine und -knöchel dermaßen sexualisiert, dass Klavierbeine mit Samt bedeckt wurden, um einen viktorianischen Gentleman nur ja nicht an Frauen denken zu lassen. Auf solch einen Quatsch reagierten Frauen in der Folge nicht nur mit der Forderung nach dem Wahlrecht, sondern auch mit modischen Veränderungen. Die Neue Frau der Weimarer Republik wollte arbeiten, Tennis spielen, Radfahren, kurz: Mensch sein. Eines von vielen Symbolen für die neue Rolle der Frau war ein Schuh ohne Absatz. Hundert Jahre später verdeutlicht nicht nur der Siegeszug des Sneaker die treibende Kraft weiblicher Mobilität, sondern nun auch der derbe Stiefel.
So wie der flache Schuh in den Zwanzigern sind hundert Jahre später die klobigen Stiefel wieder ein Statement für Emanzipation. Wer ihn trägt, macht deutlich, dass sie sich nicht herumschubsen lässt. Außerdem strahlt er eine latente Drohung aus. Wenn es sein muss, wird zugetreten. Im Zweifelsfall mit Blümchenkleid oder Jeans-Hotpants.
Dass so derbes, androgynes Schuhwerk als feministisches Symbol gelesen werden kann, liegt nahe, aber es kann weiter überraschen. Schließlich ist es noch nicht ganz lange her, dass das Kontrastprogramm, nämlich unsere High Heels, für weibliches Empowerment standen.
In den Achtzigern waren High Heels Teil des "Power Dressing" und somit des Versuchs, sich ein paar Zentimeter näher an die berüchtigte Glasdecke zu bringen. In den späten Neunzigern und frühen Zweitausendern drehte sich das Image der High Heels weiter. Sex and the City war dabei stilprägend. Hohe Schuhe waren nun nicht mehr nur Teil einer Rüstung für Businesserfolg, sie waren Teil von Outfits, die um sich selber kreisten.
Mode war vorgeblich zum Selbstzweck geworden: "Ich mache mich für mich selber schön" sollte dabei feministisches Unbehagen an Mode beruhigen und war zugleich Selbstbetrug. Stärke durch Kaufkraft.
Schuhe mit Strass, Applikationen, Schnallen, verschiedenen Materialien und möglichst eng zulaufenden Spitzen von Manolo Blahnik oder Jimmy Choo standen symbolisch dafür, dass sich Frauen ihren eigenen Luxus leisten konnten. Doch verdeckten sie dabei nicht, dass die Trägerin solcher Schuhe natürlich weiterhin zauberhaft aussehen wollte. Da konnte auch die Verdichtung zu einer politischen Aussage wie " A woman's right to shoes", wie Carrie Bradshaw es in einer Folge proklamierte, nichts dran ändern.
Anders gesagt: Schuhe, und zwar möglichst viele, wurden zum Statussymbol und die roten Sohlen der Louboutins zum unmissverständlichen Ausweis dafür. Sex and the City gab den Startschuss, aber High Heels blieben auch darüber hinaus noch lange als modischer Marker weiblicher Eigenständigkeit erhalten. Auch Serien wie The Bold Type, House of Cards oder Emily in Paris bebildern selbstständige Frauen mit hohen Hacken. Dass auf diesen Schuhen fast niemand laufen kann, ist egal, im Zweifel zeigen sie einfach, dass die Trägerin sich das Taxi leisten kann.
Wenn nun also der Funktionsstiefel den High Heel überholt, ist das auch eine Reaktion auf die Dekadenz der letzten Jahrzehnte. Einen Schuhschrank voller Stilettos und glänzender Gelegenheitsschuhe deutet eine Frivolität an, derer sich eigentlich niemand mehr so richtig beschuldigen lassen will - Nachhaltigkeit ist die Losung und ein Modell für alle Anlässe die logische Konsequenz.
Denn wer heutzutage feministisch sein will, muss halt auch an die Umwelt denken. Und an die Menschen, die den Schuh gemacht haben. Und an die Nachwelt. Der derbe Stiefel vereint in seiner Symbolkraft also nicht nur klimatechnische Rücksichtnahme, Nächstenliebe, Weltbewusstsein, sondern auch den Abgesang auf die Bereitschaft zum modischen Leid: Mit diesem Schuh braucht man keinen Arm zum Festklammern mehr.