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Brasilien zieht WM-Bilanz | Welt | DW.DE | 15.07.2014

"FicaPodolski","FicaAlemanha" - "Bleib Podolski", "Bleib Deutschland". Das wünschen sich am letzten Tag der WM Millionen brasilianische Nutzer in den sozialen Medien Facebook und Twitter. "Die Brasilianer lieben Euch", fügten Einige noch hinzu. Die Deutschen haben mit ihrem Auftritt in Brasilien einen mehr als positiven Eindruck hinterlassen - sowohl auf dem Fußballfeld als auch abseits davon. Daran ändert auch der 7:1-Sieg gegen die brasilianische Seleção nichts.

Beim feierlichen Empfang auf der Berliner Fanmeile am Dienstag (15.07.2014) bedankte sich die deutsche Nationalmannschaft auch auf Brasilianisch bei den Fans: "Orbigado Fans" - "Danke Fans" hieß es auf dem riesigen Plakat, das die Spieler den rund 300.000 Menschen entgegen hielten, die sich vor dem Brandenburger Tor versammelt hatten. Deutschland ist außer Rand und Band - und in Brasilien gönnt man es "der Mannschaft", wie sie dort nur genannt wird.

Regierung und FIFA ziehen positive Bilanz

Inmitten dieses Freudentaumels rief die brasilianische Regierung zur Pressekonferenz in der Hauptstadt Brasília, um Bilanz zu ziehen. Die WM sei ein durchweg voller Erfolg gewesen, hieß es dort einstimmig. Es sei tatsächlich die "WM aller WMs" gewesen - genau als das hatte die Staatspräsidentin das Turnier schon vor Beginn ausgerufen. Die positiven Nachwirkungen der WM seien nicht nur materiell, wie etwa eine verbesserte Infrastruktur, sondern es gebe auch zahlreiche symbolische Effekte, so Brasiliens Präsidentin Rousseff zu den Journalisten.

"Wir haben zwar den Pokal verloren - dafür aber die WM gewonnen", stimmte auch Kabinettschef Aloízio Mercadante in die Lobgesänge der brasilianischen Regierung ein. Und Sportminister Aldo Rebelo meinte, er habe von Beginn an gewusst, dass diese WM ein Erfolg werden würde.

Selbst FIFA-Chef Sepp Blatter, der vor Beginn der WM oft Kritik an Brasilien und den Verzögerungen beim Bau der Stadien geübt hatte, gab sich positiv: "Es war ein Fortschritt gegenüber Südafrika." Auf Nachfrage der Journalisten gab er der Veranstaltung die Note 9,25 auf einer Skala von eins bis zehn. "Perfektion gibt es nicht", so Blatter.

Menschenrechte wurden missachtet, sagt Kritiker

Sportminister Rebelo: Die WM war ein voller Erfolg

In diese allgemeine Lobhudelei möchte Orlando Santos nicht mit einstimmen. Er ist Mitbegründer des WM-kritischen Komitees "Comitê Popular da Copa e Olimpíadas" in Rio de Janeiro: "Es kommt darauf an, an welchen Parametern man diesen vermeintlichen Erfolg misst." Schaue man auf die Einhaltung der Menschenrechte und der Meinungsfreiheit, sei diese WM eher ein Rückschritt denn ein Erfolg gewesen, so Santos.

Der Professor für Urbanismus an der Universität von Rio de Janeiro kritisiert vor allem das radikale Vorgehen der Polizei bei den zahlreichen kleinen Demonstrationen gegen FIFA und Regierung am Rande der WM: "Die Polizei hat regelrecht gegen die Protestierenden gekämpft, sie war sehr gewaltsam", so der Aktivist.

Auch die Nichtregierungsorganisation Amnesty International zeigte der brasilianischen Regierung symbolisch die gelbe Karte, nachdem die beim Eröffnungsspiel in São Paulo Tränengas und Blendgranaten gegen Demonstrierende einsetzte. Dabei wurden sogar mehrere ausländische Journalisten verletzt. In Rio de Janeiro hätten zeitweise Zustände wie in einem Polizeistaat geherrscht: Allein beim WM-Finale waren rund 26.000 Sicherheitskräfte eingesetzt. Dieser Einsatz zählt zu den größten, die das Land je gesehen hat. Insgesamt gab die brasilianische Regierung mehr als 600 Millionen Euro allein für die Sicherheit aus.

Ausländische Besucher wollen zurück kommen

Dank dieses großzügigen Polizei- und Militäraufgebots bekamen WM-Touristen nur relativ wenig von Zwischenfällen am Rande der Demonstrationen mit. Und so ist der Eindruck, den die ausländischen Besucher in die Heimat mitnehmen, sehr positiv: 95 Prozent der mehr als eine Million Besucher aus dem Ausland wollen gerne zurück nach Brasilien kommen, verkündete die brasilianische Regierung.

Laut einer Umfrage des Think Tanks "Fundação Getúlio Vargas" im Auftrag des brasilianischen Tourismusministeriums lobten 98 Prozent der Besucher vor allem die Gastfreundschaft der Brasilianer.

Dass die brasilianische Regierung diese Zahlen nun für sich nutzt, sieht Orlando Santos sehr kritisch: "Das ist keine Errungenschaft der WM", sagt er. "Die brasilianische Kultur ist reich. Das liegt allerdings an unserer Geschichte und nicht an einem einzelnen Groß-Event." Brasilien sei auch schon vor der WM für seine Gastfreundschaft bekannt gewesen, so der WM-Kritiker.

Santos eigene Bilanz der WM: "Das Positive ist, dass die Menschen auf die Straße gegangen sind und dass die ganze Welt wachgerüttelt wurde." Er glaubt, dass eine WM zukünftig nicht mehr ohne die Beteiligung der Bürger ausgetragen werden kann.

Nach der WM ist vor den Olympischen Spielen - zumindest in Rio de Janeiro, wo schon 2016 das nächste Mega-Event austragen wird. Und so titelte die brasilianische Tageszeitung "O Globo" auch am Tag des Finales: "Noch 754 Tage bis Olympia" und zählte die zahlreichen Baumaßnahmen auf, die noch nicht den Anschein erwecken, rechtzeitig fertig zu werden. Sowohl dieses nächste Großereignis als auch die anstehenden Präsidentschaftswahlen werden Kritiker wie Regierung gleichermaßen in Atem halten. Zumindest verfallen sie so nach dem Abpfiff nicht in ein Post-WM-Trauma.

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