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„Als eine Frau fliehen wollte, wurde sie einfach niedergeschossen"

Seit Wochen demonstrieren Tausende in Myanmar gegen die Militärjunta. Die Armee geht brutal gegen sie vor. Zuletzt wurden an einem Tag 38 Menschen getötet. Wenn EU und USA nicht eingreifen, könnte sich die blutige Geschichte des Landes zum dritten Mal wiederholen. 

„Ich war in einer größeren Gruppe auf einer Straßenkreuzung, als wir von der Polizei eingekesselt wurden", erzählt Mya Yoon Mo. Dann hätten die Beamten angefangen, die Demonstranten mit Schlagstöcken von allen Seiten zu attackieren. Nur mit Glück habe sie die Reihen der Polizei durchbrechen können, erzählt die junge Frau WELT AM SONNTAG am Freitag am Telefon. Aber dann hätten die Polizisten angefangen, mit scharfer Munition zu feuern. „Sie haben einfach geschossen", schreit Mya Yoon Mo fassungslos ins Telefon. Sie sei dem Kugelhagel nur durch Hilfe entkommen, berichtet sie. „Als eine Frau in eine Nebenstraße fliehen wollte, wurde sie einfach niedergeschossen. Ich bin weggerannt, und zum Glück haben Anwohner am Straßenrand ihre Haustür aufgemacht, sodass ich mich bei ihnen verstecken konnte.“


Das jähe Ende einer Erfolgsgeschichte

Es sind Schilderungen wie diese, die einen erschaudern lassen. Myanmar, das klang bis vor Kurzem noch wie eine Verheißung. Das 54-Millionen-Einwohner-Land in Südostasien galt als Exempel für eine gelingende demokratische Transformation. Doch Anfang Februar putschte das Militär. Der Umsturz bescherte der Erfolgsgeschichte ein jähes Ende. Er brachte aber auch eine wütende Protestbewegung zutage, die sich mit aller Entschlossenheit gegen den vom Militär ausgerufenen Ausnahmezustand wehrt.

Mya Yoon Mo, die junge Frau aus Mandalay, ist Teil dieser Bewegung. Sie erlebt derzeit, wie ihr Land in Gewalt versinkt. Am Sonntag vor einer Woche starben mindestens 18 Menschen durch Schüsse von Sicherheitskräften. Kaum hatten Beobachter – in Anlehnung an den Nordirlandkonflikt – für den Tag den Namen „Myanmars Blutsonntag“ gefunden, erschossen Sicherheitskräfte am Mittwoch nach Angaben der Vereinten Nationen landesweit mindestens 38 Menschen. Ein schauriger Höhepunkt.

Militär erschießt mindestens 18 Protestierende in Myanmar

Die Proteste gegen den Militärputsch in Myanmar haben ihren bisher blutigsten Tag erlebt. Mindestens 18 Protestierende sind vom Militär erschossen worden. Die Proteste toben inzwischen in allen Ecken Myanmars, auf dem Land genauso wie in der Sechs-Millionen-Metropole Yangon. Mya Yoon Mo erlebt sie in Mandalay, der ehemaligen königlichen Hauptstadt im Zentrum des Landes. Die junge Frau ist von den Ereignissen immer noch mitgenommen. Aber sie gibt sich kämpferisch. „Das Militär hat Waffen, aber keine Strategie. Es schießt einfach nur“, sagt sie. „Wir hingegen sind vereint und solidarisch. Wir haben uns.“

Auch Tayzar San ist durcheinander, als WELT AM SONNTAG ihn am Donnerstag am Telefon erreicht. Der 32-jährige Student wohnt ebenfalls in der Zwei-Millionen-Stadt Mandalay, er hat dort Anfang Februar den ersten Protest gegen den Militärputsch organisiert. Am Telefon wirkt er sehr beunruhigt. Er sei gerade auf dem Nachhauseweg gewesen, erzählt er, als ihn seine Frau angerufen habe. Die Polizei sei bei ihm zu Hause gewesen und habe nach ihm gesucht. Deswegen verstecke er sich jetzt bei einem Freund. Seine Angst: dass die Polizei seine Frau und seine einjährige Tochter mitnimmt.


Wer Tayzar San zuhört, wähnt sich im Krieg. Denn der junge Mann berichtet nicht nur von Wasserwerfern und Tränengas, sondern auch von Maschinengewehren und Scharfschützen. Am vergangenen Mittwoch sei das Militär mit Kampfflugzeugen im Tiefflug über die Demonstranten in Mandalay hinweggedonnert. Doch auch Tayzar San gibt sich – trotz oder wegen der Angst – kämpferisch. „Ich bin bereit, mein Leben zu geben, denn genug ist genug“, sagt er. Myanmar dürfe nicht wieder in eine Militärdiktatur abdriften. „Wir müssen für uns und die nächste Generation kämpfen, als wäre es unsere letzte Chance“, sagt er. „Denn genau das ist es.“


Myanmar befand sich seit den 60er-Jahren im Würgegriff einer Militärjunta, bis sich im vergangenen Jahrzehnt eine vorsichtige Öffnung abzeichnete. 2010 entließ die Militärregierung Aung San Suu Kyi, die Freiheitsikone und Friedensnobelpreisträgerin, aus dem Hausarrest. Die internationale Presse jubelte, US-Präsident Barack Obama empfing die in Myanmar als „Mutter Suu“ verehrte Politikerin im Weißen Haus. Internationale Handelsblockaden wurden aufgehoben, politische Gefangene wurden freigelassen, Wahlen abgehalten. Kurz: Myanmar mauserte sich, so schien es, zu einer Demokratie.


Doch der Schein trog. Tatsächlich ließ das Militär auch während der vorsichtigen Öffnung die Zügel nicht aus der Hand. Laut Verfassung fallen ihm 25 Prozent der Parlamentssitze zu, den Generälen sind drei Ministerposten vorbehalten.

Als Auslöser für den Putsch gilt die Parlamentswahl im vergangenen November. Die Nationale Liga für Demokratie (NLD), die Partei von Aung San Suu Kyi, erzielte einen Erdrutschsieg. Die vom Militär unterstützte Union Solidarity and Development Party (USDP) blieb weit hinter ihren Zielen zurück. Am 1. Februar hätte das neue Parlament eigentlich zum ersten Mal zusammenkommen sollen.

Genau das verhinderte das Militär mit seinem Putsch. Es ließ Panzer durch die Straßen mehrerer Städte rollen, rief den Ausnahmezustand aus und verhaftete Aung San Suu Kyi sowie weitere ranghohe Politiker. Die 75-Jährige wird inzwischen wegen mehrerer angeblicher Delikte angeklagt.


Die Säulen der Protestbewegung

Die myanmarische Protestbewegung hat mehrere Säulen. Zum einen besteht sie aus der Generation Z, wie sie genannt wird, also aus jungen Menschen. Zu ihnen gehören Mya Yoo Mo und Tayzar San. Sie treiben die Straßenproteste voran, die zum Teil kreative Anleihen bei den Protestbewegungen in Hongkong und Thailand machen.


Darüber hinaus hat sich eine „Bewegung des zivilen Ungehorsams“ gebildet. Diese entstand, als sich wenige Tage nach dem Putsch Ärzte und Krankenschwestern weigerten, unter der Militärregierung zu arbeiten. Dieser Bewegung schlossen sich dann immer mehr Beschäftigte staatlicher Betriebe an, die inzwischen unter Kontrolle des Militärs stehen.

Die Bewegung genieße in der Bevölkerung großen Rückhalt, erzählt Mya Yoo Mo. Ihr Vater, ein Ingenieur im Transportministerium in der Hauptstadt Naypyidaw, habe sich ihr angeschlossen. Er streike. Sogar so etwas wie eine Gegenregierung gibt es inzwischen. Ein 17-köpfiges Komitee hat Interimsminister ernannt. Das Komitee wurde nach dem Putsch von schätzungsweise etwas mehr als der Hälfte der 664 Parlamentsabgeordneten gewählt. Die Militärregierung betrachtet das Komitee als „terroristische Organisation“.


Festnahmen von Journalisten

Videoanruf bei Myint Kyaw. Der Journalist gehört nicht mehr zur Generation Z. Mit seinen 57 Jahren hat er die meiste Zeit seines Lebens unter der Militärjunta verbracht. Er leitet das Myanmar Journalism Institute, die erste unabhängige Journalistenschule des Landes, die 2014 gegründet wurde – in der Phase der demokratischen Öffnung. 

Seit dem Putsch sei die Presse in Myanmar wieder unter enormem Druck, berichtet Myint Kyaw. Er erzählt, dass viele Journalisten festgenommen worden seien. Die Militärregierung werfe ihnen vor, die Proteste mit ihren Berichten angeheizt zu haben. Myint Kyaw ist dieser Tage eher Rechtsberater als Journalistentrainer.


Unter die Straßenproteste mischt sich Myint Kyaw nicht. Zu groß ist seine Angst. „In Myanmar ist gerade alles denkbar“, sagt er. Er verfolgt die Proteste meistens per Livestream. Die Demonstranten organisieren sich nicht nur im Internet und in sozialen Medien. Sie streamen die Geschehnisse auch live im Netz.

Zwar sind viele soziale Medien inzwischen blockiert. Aber wer wie Myint Kyaw ein VPN verwendet, ein Virtual Private Network, kann die Zensur umgehen. Als er am Mittwoch in einen Livestream schaltete, habe er mitansehen müssen, wie einer jungen Frau in den Kopf geschossen worden sei, erzählt er. Es sei schwer, solche Bilder zu vergessen.


Was den Journalisten von den kämpferischen Demonstranten der Generation Z unterscheidet, ist, dass er nüchterner ist. Er befürchtet, dass sich viele junge Protestierende Illusionen machen – und vergeblich hoffen, dass ihnen der Westen in irgendeiner Weise helfen werde. Die USA haben führende Militärangehörige, für den Putsch verantwortliche Ministerien und mit den Streitkräften verbundene Unternehmen mit Sanktionen belegt. Auch die EU will Sanktionen gegen Vertreter des Militärs verhängen.

Besser als nichts, findet Myint Kyaw. Aber ist das genug? Eher nicht, denkt er. In den vergangenen Jahrzehnten sind in Myanmar zwei Aufstände blutig niedergeschlagen worden, der Aufstand „8888“ im Jahr 1988 und die „Safran-Revolution“ im Jahr 2007. Myint Kyaw befürchtet, dass sich die Geschichte wiederholen könne. „Ich habe mehr Angst als je zuvor“, sagt er, „dass wir auf eine brutale Niederschlagung der Proteste zusteuern.“

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