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Kein Surrogat für schwere Zeiten - Praxis

Nushin Yazdani & Can Karaalioglu: Into the Pluriverse – Douniahs Welt, 2020, VR-Arbeit, © die Künstler*innen

Seit Beginn der Coronakrise setzt die Kunstwelt verstärkt aufs Digitale. Dabei wird oft so getan, als handele es sich nur um eine Notlösung. Doch Kunst im Netz verdient unabhängig von der Schließung physischer Kunstorte Aufmerksamkeit.


Zwei Besucher*innen schlendern durch die Räumlichkeiten des Berliner Haus am Lützowplatz. Sie nehmen an einer Führung durch die Schau Kunst kann teil, obwohl sie eigentlich bequem am heimischen Bildschirm sitzen. Stellvertretend für sie ist eine Mitarbeiterin des Kunstvereins vor Ort, über Zoom bringt sie ihnen die Exponate nahe. "Soll ich mit der Kamera näher rangehen?", fragt die Avatarin hin und wieder.

Eigentlich hatte das Haus am Lützowplatz Kunst kann als Vor-Ort-Ausstellung konzipiert. Doch noch bevor sie im Dezember 2020 eröffnen konnte, kam die coronabedingte Schließung der Ausstellungsräume und kurz darauf die Idee, die Schau über Zoom zum Publikum zu bringen. So wie das Haus am Lützowplatz setzen viele Kunstinstitutionen in Berlin, Deutschland und der ganzen Welt seit Pandemiebeginn verstärkt aufs Digitale, sei es durch 3D-Ansichten, virtuelle Rundgänge oder Instagram-Livestreams. Viele entdecken aktuell sogar die Netzkunst neu - dabei existiert das Kunstgenre, das für das Internet geschaffen ist und mit dessen Mitteln und Eigenschaften arbeitet, schon fast dreißig Jahre. Doch der aktuelle Digital-Hype scheint nicht immer einem genuinen Interesse zu entspringen. Oft wird seitens der Kunstinstitutionen so getan, als wäre dieses Digitale nur eine Notlösung. So klagte etwa die Net-Art-Pionierin Olia Lialina schon zu Beginn der Coronakrise auf Twitter: "[I]t is impolite to start an invitation letter to net artist with 'since everything is closed and canceled'." Dabei hat gerade das erste pandemische Kunstjahr eindrückliche Beweise dafür geliefert, dass das Digitale nicht bloß als Surrogat für schwere Zeiten betrachtet werden sollte.

An Lernstationen Arbeitsprozesse ergründen


Zum Beispiel Kunst kann des Haus am Lützowplatz. Dabei handelte es sich um eine Mitmach-Schau, in der Besucher*innen bis Ende Januar die Arbeitsprozesse von zwölf Künstler*innen ergründen konnten, und zwar nicht nur anhand von deren Kunstwerken, sondern vor allem von Lernstationen. Dort konnte und sogar sollte man zum Beispiel basteln, schreiben oder zeichnen. Das Erlebnis einer solchen Ausstellung über Zoom zu vermitteln, ist offensichtlich nicht leicht. Und das merkte man dem virtuellen Rundgang auch an. So eigneten sich nicht alle Lernstationen dazu, über Zoom bespielt zu werden. Jedoch eröffnete das Format auch neue Möglichkeiten der Interaktion: Man war etwa dazu angehalten, mit unbekannten Menschen zu brainstormen, um den Titel für einen noch nicht gedrehten Film zu erfinden und dem*der Avatar*in ganz genaue Anweisungen für die Herstellung einer Skulptur oder einer Zeichnung zu geben. Nicht alles funktionierte dabei einwandfrei, doch das "Unvollkommene" hatte auch eine Qualität: Man hatte das Gefühl, bei einem Experiment dabei zu sein.

Jump and-Run-Spiel als Netzkunst


Sein volles Potenzial entfaltet das Digitale jedoch nicht in der Kunstvermittlung, sondern in der Netzkunst. Denn hier hört das Digitale auf, reines Instrument zu sein. "Im Digitalen ist möglich, was im realen Raum unmöglich ist", steht etwa im Begleittext zur Ausstellung Surprisingly This Rather Works des Netzkünstlers Manuel Rossner. Von Anika Meier und Johann König kuratiert, war das Werk ursprünglich als VR-Arbeit geplant. Daraus ist am Ende eine Version für Smartphones und Tablets geworden, die noch bis April 2021 über die App der Berliner König Galerie erlebt werden kann. Dabei handelt es sich um ein Jump-and-Run-Spiel, in dem Nutzer*innen einen diesmal rein virtuellen Avatar durch einen Parcours in der in 3D nachgebauten König Galerie steuern. Die karge Sichtbeton-Architektur der ehemaligen St. Agnes Kirche ist hier um eine knallbunte Installation ergänzt, die aus haptisch wirkenden und jedoch rein algorithmischen Blasen besteht. Ganz als wäre sie eine Wildpflanze, wuchert die amorphe Gestalt durch den den Innenraum bis zum Dach des Gebäudes. Als Avatar kann man auch bis ganz oben unter die Decke klettern, in das Gebilde hineintreten und auf dem Weg dahin einige der im Raum ausgestellten Skulpturen berühren und sogar umstoßen.

In der Realität könnte sich so eine Installation nicht bauen lassen. Genauso wenig wäre in der physischen Galerie möglich, mit Raum und Kunst so zu interagieren. Die Abkehr von in analogen Kunstorten geltenden Normen vermag es, neue Möglichkeiten des Erlebens von Kunst aufzuzeigen und zu ergründen. Dass Rossners Arbeit als kostenfreies App-Spiel niedrigschwellig, zeit-, ortsunabhängig und barrierefrei zugänglich ist, erscheinen jeweils als zusätzliche Erweiterungsebenen.

Tourneeausstellung im Digitalen


Als eine Art Erweiterung der analogen Welt und der darin stattfindenden Kunstpraktiken kann auch das Projekt Are You For Real verstanden werden, das von Julia Grosse, Yvette Mutumba und Paula Nascimento für das Institut für Auslandsbeziehungen kuratiert wurde. Darin wird nämlich das Format der internationalen Tourneeausstellung im Digitalen weitergedacht: So sind es diesmal nicht die physischen Kunstwerke, die um die Welt reisen, sondern die Ideen und Gedanken dank einer von der Designerin und Programmiererin Yehwan Song entwickelten, webbasierten, kollaborativen Plattform. Hier sollen bildende Künstler*innen, Poet*innen, Akademiker*innen und Programmierer*innen für ein "kulturelles Experiment", wie Kuratorin Grosse es beschreibt, zusammenkommen und über einen Zeitraum von zwei Jahren Werke schaffen, die sich mit dem Thema Realität befassen. Die Frage danach, was real ist bzw. was wir als real(er) empfinden, erscheint in Zeiten allgegenwärtiger Digitalität und gerade mitten in einer Pandemie, die den Digitalisierungsprozess (gerade im Kunstbereich) maßgeblich vorantreibt, besonders dringend und interessant. Dabei beleuchtet das Projekt anhand der darin enthaltenen künstlerisch-kulturellen Beiträge insbesondere auch die Problematik digitaler Kontexte, wie zum Beispiel das Thema diskriminierender Software. Somit werden Kontinuitäten zwischen analoger und digitaler Welt aufgezeigt, die Neutralität des Digitalen als Utopie entlarvt. Und Are You For Real scheint sich zugleich als eine Kritik am Digitalen mit dessen ureigenen Mitteln zu entfalten.

All das kann exemplarisch an dem Herzstück des Projekts beobachtet werden, der Virtual Reality Into the Pluriverse von Nushin Yazdani & Can Karaalioglu. Nutzer*innen befinden sich hier zunächst auf einer einsamen Insel. Mittels in Berliner-U-Bahn-Ästhetik gezeichneter Treppen können sie in fünf verschiedene fiktive Welten eintauchen - etwa in urbane Landschaften, Naturpanoramen sowie science-fiction-artige Settings -, die wiederum auf die "Realitäten" fünf verschiedener Menschen aus den Bereichen Kunst, Wissenschaft und Gesellschaft zurückzuführen sind. Darunter ist etwa eine Audio-Installation der indigenen Künstlerin, Wissenschaftlerin und Cyberfeministin Tiara Roxanne, die thematisiert, wie der digitale Raum die Geschichte des Kolonialismus durch rassistische Algorithmen fortsetzt.


Diese Beispiele zeigen: Wenn es nicht dabei bleibt, in physischen Räumlichkeiten stattfindende Kunst im Netz nachzubilden, funktioniert das Digitale nicht bloß als ein alternativer Kunstraum. Vielmehr wird es dann zu einem eigenständigen Kunstort mit eigenem Mehrwert - sei es das Potenzial, neue Raum- und Kunsterfahrungen zu erschließen, kritisch das Digitale aus dem Digitalen heraus zu hinterfragen oder einfach die Bereitschaft zum "unvollkommenen" Experimentieren. Dass die Avatarin des Haus am Lützowplatz bei einer Lernstation in fast verlegenem Ton vorausschickt, sie sei nicht so eine gute Zeichnerin, lässt insofern nichts an dem Ausstellungsbesuch verloren gehen. Da wird der interaktive Zoom-Rundgang sogar zur Übung in Sachen Empathie.

Dieser Text ist im Rahmen des Seminars "Kunststadt Berlin" im Wintersemester 2020/21 entstanden. Zum Original