Im Dezember 2017
fielen Brigitte Schönfeld die Haare aus. Erst waren es nur ein paar mehr
in der Bürste, wenn sie sich morgens kämmte. Dann Büschel, die beim
Glattstreichen in ihren Händen blieben. Sie stand vor dem Spiegel und
rief nach ihrem Mann. "Die Nachbarin, die schert doch immer ihre Hunde
vor dem Winter, das kann die doch auch mit mir machen."
Sie
wusste, dass das passieren könnte, die Ärzte hatten es ihr gesagt. Noch
am selben Nachmittag kam die Nachbarin mit ihrer Schere und rasierte
Brigitte Schönfelds Haare ab. Im Schrank lag schon ihre Perücke, die
gleiche Farbe wie die kastanienbraunen Haare am Boden.
Brigitte
Schönfeld ist 80 Jahre alt. Sie erinnert sich immer noch an die Worte
ihrer Mutter, die sie zu ihr als Zehnjähriger sagte: "Deine Ohren sind
nicht schön. Bedecke sie." Ihr ganzes Leben lang trug sie die Haare über
ihren Ohren, auch jetzt soll sich das nicht ändern, ihre Perücke nimmt
sie in der Öffentlichkeit nicht ab. "Zeige nicht deine Ohren. Zeige nie
deine Ohren."
Sie
erzählt die Geschichte im Kosmetikseminar, die anderen Teilnehmerinnen
lachen. Es ist ein Nachmittag im März. Aus dem sechsten Stock des
Vivantes-Klinikums Am Urban haben sie einen weiten Blick über Berlin.
Kosmetikerin Veronika Gracher erklärt den Frauen, wie sie ihre Haut am
besten pflegen. Eine reichhaltige Creme ist wichtig, ein Sonnenschutz
und Concealer können helfen, rote Flecken abzudecken.
Einmal
im Monat kommt sie zum Kosmetikseminar, arbeitet dort ehrenamtlich und
erklärt, wie sich die Patientinnen krebsgerecht schminken können. Denn
für Frauen bedeutet Krebs oft auch einen Verlust der Weiblichkeit. Der
Körper verändert sich, wird aufgeschwemmt, die Haut wird blass und
rissig, Kopfhaare, Wimpern und Augenbrauen fallen bei vielen nach und
nach aus. Gerade die sind es aber, die ein Gesicht formen und den
Ausdruck bestimmen. Der eigene Körper wird fremd für die Frauen, im
Spiegel schaut sie eine andere Person an.
So
beschreibt es die 34-jährige Katharina Walter (Name geändert). "Wenn
ich morgens in den Spiegel schaue, sehe ich aus wie eine Schildkröte."
Sie schmiert sich Wimpernserum und Augenbrauencreme ins Gesicht, in der
Hoffnung, dass ihre Haare nicht komplett ausfallen. Ihr geht es vor
allem um ihren Sohn. Der ist gerade zwei geworden. Sie möchte nicht,
dass er sie so sieht, nackt wie eine Echse, ohne Haare auf dem Kopf. Sie
hat Angst, dass sich dieses Bild in seinem Gedächtnis einbrennt, dass
er es nicht mehr loswird.
Viele
aus ihrem Umfeld wissen gar nicht, dass sie Krebs hat. Sie möchte
nicht, dass die anderen Eltern in der Kita über sie reden oder ihren
Sohn anders behandeln oder bemitleiden. Sie möchte, dass er normal
aufwächst und nicht auf seine kranke Mutter reduziert wird. Genauso
wenig will Katharina Walter "die Mutter mit Krebs sein".
Deshalb
möchte sie anonym bleiben, sie verrät nur, dass sie in der
Kommunikationsbranche gearbeitet hat und wieder arbeiten wird. Die Frau,
die den Krebs besiegt hat, das möchte sie gern sein. Im Nachhinein wird
sie vielleicht mit anderen darüber reden.
Und
jetzt, im Seminar, da redet sie auch über ihre Krankheit. Er ist die
Gemeinsamkeit der Frauen, der Krebs. Über ihn kommen sie ins Gespräch.
Die Kosmetikerin erklärt, wie man auch ohne Wimpern die Augen betonen
kann. Ein schwarzer Kajalstift, mit ihm soll man das Auge umrunden, das
macht den Blick intensiver. Die Augenbrauen am besten mit vielen kleinen
Strichen nachmalen, nicht in einer ganzen Linie, dann sieht das aus wie
kleine Härchen. Für die Frauen ist das ein geschützter Raum, sie können
alle ihre Fragen stellen.
Und
sie machen sich gegenseitig Komplimente: "Du hast so tolle Haare", sagt
die eine, die andere erwidert: "Du kannst dich so gut schminken." Es
ist eine Ablenkung, eine Flucht aus dem Krebsalltag, aus Chemo und
Bestrahlung, in diesen zwei Stunden im Seminar geht es um sie als Frauen
- und darum, wie sie ihre Weiblichkeit betonen können. Einige nehmen
ihre Perücken ab, streichen sich mit der Hand über die Stoppeln. Die
Kosmetikerin erklärt, wie sie aus einem Schal einen Turban binden können
und dass man darunter gar keine Perücke tragen muss, nur am Nacken eine
kleine Locke befestigen, denn dort sieht man als Erstes, wenn jemand
keine Haare hat.
Katharina
Walter trägt ihre Perücke noch nicht, sie liegt bei ihr zu Hause im
Kleiderschrank, ganz hinten in einer Kiste. Sie braucht sie noch nicht.
Bisher hat sie durch die Chemotherapie 30 Prozent ihrer Haare verloren,
Wimpern und Augenbrauen sind noch da, auch wenn sie die inzwischen
stärker nachzeichnen muss als vor der Therapie. Katharina Walter wird
mit einem neuartigen Gerät behandelt. Es verspricht, den Großteil der
Kopfhaare zu erhalten, während die Krebsmedikamente durch den Körper
laufen. Sie nennt es "die Kühlkappe".
30
Minuten bevor die Behandlung losgeht, setzt sie eine blaue Silikonkappe
auf. Die ist mit Schläuchen durchsetzt, und eine Kühlflüssigkeit fließt
hindurch, eiskalt ist die. Sie soll die Kopfhaut auf fünf Grad
runterkühlen. Das schwächt die Durchblutung, das Krebsmedikament kann
also nicht bis an die Wurzeln durchdringen und diese zerstören.
Eineinhalb
Stunden nachdem die Chemo durchgelaufen ist, darf sie die Kühlkappe
abnehmen. Bisher hat sie geholfen, auch wenn sie davon Kopfschmerzen
bekommt. Katharina Walter sagt, dass sie so selbst entscheiden kann, wem
sie von der Krankheit erzählt, das hat ihr Kraft gegeben und sie stark
gemacht. Dass ihr Gewicht schwankt, ihr manche Hose zwischenzeitlich
nicht mehr passt, dass sie mehr Pickel hat und weniger selbstbewusst
ist, das bekommen Fremde oder Bekannte nicht mit. Sie hat einen Alltag,
steht jeden Tag um 6.30 Uhr auf, kann ins Restaurant gehen und U-Bahn
fahren, ohne angestarrt zu werden.
Kosmetikerin
Veronika Gracher sagt: "Es ist wichtig, dass sie nach wie vor als Frau
wahrgenommen werden und nicht nur auf ihre Krankheit reduziert werden.
Perücken und Make-up helfen dabei, sich trotz allem weiblich zu fühlen,
und können einiges kaschieren." Tatsächlich spielt das Aussehen für
viele während der Therapie eine große Rolle. Es strukturiert den Tag,
wenn sie aufstehen, sich anziehen und schminken, es lenkt sie ab.
Krebsmedikamente führen außerdem zu hormonellen Veränderungen und damit
zu trockenen Schleimhäuten und einem Verlust der Libido, das belastet -
den Partner und die Frauen selbst.
Nach
der Diagnose verändert sich das Körpergefühl bei vielen Frauen, das
Vertrauen schwindet: Brigitte Schönfeld erinnert sich noch gut an den
Tag, an dem sie etwas Rundes, Hartes ertastet hat. Zwei Tage nach ihrem
Geburtstag war das. Auch Katharina Walter erfühlte den Tumor kurz nach
ihrem Geburtstag, bei ihr war es der 34., bei Brigitte Schönfeld der 80.
Und immer die Fragen: Was habe ich übersehen, hätte ich es früher
merken müssen, was habe ich falsch gemacht?
Danach
verbrachten beide viel Zeit in Wartezimmern und bei Ärzten:
Zweitmeinungen, Blutabnehmen, die Brust abtasten, einen Port operiert
bekommen, zum Onkologen überwiesen werden. Brigitte Schönfelds Tumor war
aggressiv und wuchs schnell, schon bald hatte er die Größe eines
Tennisballs. Sie sollte zwölf Behandlungen bekommen.
Doch
ihre Beine schwollen immer weiter an, zur siebten Therapie schleppte
sie sich in ihren Hausschuhen, es war noch Winter, aber ihre Füße haben
nicht mehr in die normalen Schuhe gepasst, sie hatte Schmerzen. Die
Ärzte gaben auf, zu alt für eine Chemo, das Herz zu schwach, sagten sie.
Dann machten sie einen Ultraschall und: Der Tumor war fast weg. Sie
konnten die Operation vorziehen, in der das letzte kranke Gewebe aus der
Brust entfernt wird.
Heute
hat Brigitte Schönfeld eine lange geschwungene Narbe an ihrer linken
Brust, die Form wurde rekonstruiert. Katharina Walter hat die Operation
noch vor sich, sie wird noch mit einer Chemotherapie aus Eibenextrakt,
einem giftigen Baum, behandelt. Beide sagen, sie sind stolz auf ihren
Körper, dass er das geschafft und dieses Gift wieder herausgefiltert
hat.
Brigitte
Schönfelds Augenlider sind noch gerötet, die Wimpern fehlen. Doch auf
ihrem Kopf wachsen inzwischen weiße Stoppeln nach. Das hat sie gerade
erst gesehen, als sie sich mit einer Babybürste Lotion in die Kopfhaut
einmassiert hat. Sie überlegt gerade, ob sie die Haare wieder braun
färben oder zum ersten Mal weiß lassen soll. Die Perücke wird sie so
lange aufsetzen, bis die Haare lang genug sind. Niemand soll ihre Ohren
sehen.
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