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Aus meiner Kindheit

Die erste Lehrerin im Ort hat mir mit allen pädagogischen Mitteln, die ihr zur Verfügung standen, klargemacht, dass ich dumm sei. Ich habe dies sogar bis zu einem gewissen Grad geglaubt, obwohl mir oft dachte, ich seit etwas Besonderes. Noch vor der Schulzeit hat mich die Religion sehr beschäftigt. Ich habe mir oft überlegt, ob es wirklich einen Gott gibt. Mit meinen Freundinnen konnte ich darüber nicht reden oder wollte ich nicht reden.

 

Meine beste Freundin war evangelisch und war eher mit materiellen Dingen beschäftigt. Die Eltern kamen aus dem Osten und sie litt lange Zeit darunter. Sie wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf, hatte zahlreiche Brüder und das Geld war knapp. Wenn die Eltern etwas übrig hatten, schickten sie Fresspakete in den Osten. Gefragt waren Kaffee, Pudding, Zucker, Seidenstrümpfe, Strumpfhosen, eben Sachen und Dinge, die es „drüben“ nicht gab. Wie gesagt, das Thema Religion war zwischen uns beiden tabu. Wir machten zusammen viele Handarbeiten. Wir stickten, häkelten, strickten Pullover, nähten Kleider. Beruf, Familie, Haushalt, das interessierte Barbara und die Männer. Sie war recht hübsch und blond und kam bei den Jungs gut an. Anfang waren wir in der Schule gleich gut, später überhole ich sie. Barbara war sauer, als ich in der Schule besser war als sie und empfand es als ungerecht, wenn ich immer alles wusste.

Eines Tages habe ich einfach den Unterrichtsstoff gelernt. Geschichtszahlen mussten wir ab 9 Nach Christi Geburt auswendig wissen. Wer’s nicht wusste, hatte nachzusitzen. So ein zwei Mal nahm ich am Montag in der letzten Stunde am Nachsitzen teil, dann wurde es mir zu blöd und ich lernte die Zahlen auswendig. Mein Lehrer war erstaunt und meinte, ich würde eine bessere Hilfsschule besuchen und solle doch auf Gymnasium, aber da waren meine Eltern dagegen. Ich hätte die Handelsschule besuchen könne, oder mit einer Schülerin der niedrigeren Klasse auf ein weltliches Aufbaugymnasium gehen  können. Es war im Oberland, hatte aber einen schlechten Ruf.


So scheiterte meine Weiterbildung immer an den äußeren Umständen. Meine Eltern hatten ein Frisörgeschäft aufgebaut und konnten sich nicht so richtig damit abfinden, dass es keiner von uns Kindern übernehmen wollte. Der älteste Bruder verlor in jungen Jähen bei einem Unfall den Daumen und konnte kein Handwerk erlernen, also kam er aufs Gymnasium


Mein jüngerer Bruder war mir den Händen nicht gerade geschickt und wurde auch aufs Gymnasium geschickt. Er hatte es nicht leicht, scheiterte oft an den Lehrern. Wir haben mit ihm oft Hausaufgaben gemacht, aber in der Schule bei den Klassenarbeiten wusste er einfach nicht mehr. Meine Eltern haben relativ viel Geld für den Nachhilfeunterricht ausgegeben. Ich empfand es als äußerst ungerecht. Ich wäre gerne ein Junge gewesen, weil die aufs Gymnasium durften und ich nicht. Da gab es keine Diskussionen. Irgendwie ist das eine ungerechte Welt.


Ich habe viel heimlich gelesen. Auf dem Dachboden. Bei meinem älteren Bruder fand ich Krimis. Die nahm ich mit auf die Bühne und verschlang sie. Karl May und Indianerbücher folgten. Mädchenbücher interessierten mich nicht. Ich bekam keine Bücher geschenkt. Nur einmal eines von meiner Tante. Den Inhalt verstand ich nicht. Es ging um die erste Liebe zu einem Jungen und dafür war ich wohl noch zu jung. Ich legte das Buch beiseite. Als ich älter war, las ich es ein zweites Mal und nun verstand ich den Inhalt. Mädchen aus dem Ort liehen sich in der Pfarrbücherei Lektüre aus. Manchmal brachten sie mir welche vorbei. Meist Mädchenwälzer, die mich nicht interessierten. Ich war eher ein Junge und viel mit Jungs zusammen. So war es nun mal


Einmal kam ein Vertreter im Friseurgeschäft vorbei. Ich kam zufällig ins Geschäft. Keine Schuhe, Hosen bis zum Knie, Rollkragenpullover, kurze Haare und keinerlei Farbe, bzw. Schminke im Gesicht. „Das ist meine Tochter“, stellte mich meine Mutter vor. „Ihre Tochter?“ fragte der Vertreter und musterte mich von oben bis unten. „Ja, meine Tochter.“  „Das würde man aber nicht ansehen.“ Die Tochter eines Friseurs und keine lackierten Fingernägel, keine toupierten Haare, keine Schminke im Gesicht.“ Er wollte es nicht glauben.


Ich bekam nicht Bücher geschenkt, sondern eine Puppenstube und Puppen und einen silbergrauen Puppenwagen. Das war zu Ostern.  

 

Wir stellten ihn sofort der Oma vor. Meine Kusine hatte auch einen erhalten. Der war eher traditionell gehalten. Nun ging es in der Verwandtschaft darum, welcher besser aussieht. Meiner war zu modern. Ich war beleidigt. Meiner Oma gefiel der Puppenwagen von meiner Kusine besser.  Meine Oma kannte ich nicht anders, als in der unteren Stube sitzend und eine Schüssel Milch vor sich. Sie war ruhig, freute sich, wenn wir sie besuchten. Wir saßen eine zeitlang bei ihr im Zimmer und gingen dann wieder nach Hause oder zu unseren Freunden. Eigentlich gab es mir ihr keinen Ärger und keinen Streit. Sie bewohnt ein Zimmer im Erdgeschoss. Im gleichen Haus wohnte meiner Tante mit ihrer Familie und die Oma wurde von ihnen versorgt. Ich habe sie als ruhige Person in Erinnerung. Ich kannte sie nicht anders, als mit einer Schüssel Milch vor sich auf dem Sofa sitzend. Meine Mutter hätte sie gerne zu uns geholt. Das Haus war groß genug. Aber wir konnten sie im Erdgeschoss nicht unterbringen. Und die Oma war nicht in der Lage, die Treppe ins erste Obergeschoss hinaufzusteigen. So blieb alles beim Alten.


Die Oma väterlicherseits lernte ich nie kennen, nur den Opa mit seinen Pferden. Er war ein großer hagerer Mann und wer Pferde besaß, genoss im Dorf ein hohes Ansehen, denn er hatte Geld und Vermögen. Nur reiche Leute konnten sich Pferde leisten. Daran hat sich wohl bis heute nichts geändert. Bei uns im Ort gibt es heute fast so viele Pferde wie Mercedes.

 

Als ich die zweite Klasse besuchte, wurden meine Eltern morgens noch vor dem Frühstück gerufen. Sie brachten mich zur Nachbarin und gingen zum Haus der Großeltern. Ich hatte meine Handarbeit zu Hause liegen lassen Auf dem Weg zur Schule bemerkte ich dies und machte mich auf den Weg zum Haus des Großvaters. Als ich ins Zimmer tat, machte er gerade die Augen zu. Meine Tante setzt mich auf einen Stuhl und ermahnte mich, zum Stillsein. Mein Opa bekam die letzte Ölung und Sterbesakramente vom Dorfpfarrer. Irgendwie hatte ich den Eindruck, er würde die Augen gleich wieder aufmachen und aufstehen. Aber dem war nicht so. Einige Tage später war die Beerdigung, an die ich mich nicht mehr erinnern kann. Der Tod meines Großvaters war ein unheimlicher Moment in meinem Leben und ist mir bis heute im Gedächtnis geblieben. Später ging ich die Schule. Das war meine erste Begegnung mit dem Tod.


Ich habe mir oft überlegt, ob es einen Gott gibt. Im Religionsunterricht mussten wir Bibelsprüche auswendig lernen und erhielten dafür kreuze und am Ende des Jahres eine Note. So kurz vor den Zeugnissen lernte ich die Sprüche auswendig, schließlich wollte ich eine einigermaßen vorzeigbare Note. Meist benutzte ich die Unterrichtsstunden vor dem Religionsunterricht dazu.


Wenn ich keine Bibelsprüche auswendig lernte, las ich Liebesromane. Die machten bei uns an der Schule die Runde und ich musste mir irgendwie die Zeit vertreiben. Der Lehrer kam dahinter. Er rief mich auf und beauftragte mich, das Klassenbuch zu Lehrerin Schmoll zu bringen, um die Stunden einzutragen. Ihr Klassenzimmer lag einen Stock höher. Ich war stolz, dass er mir diese Aufgabe übertrug und marschierte los. Bei meiner Rückkehr ins Klassenzimmer erwartete mich eine Überraschung. Ich legte das Klassenbuch aufs Pult und setzte mich wieder auf meinen Stuhl. Die Schulkameraden lachten sich ins Fäustchen  und ich wusste nicht so recht, was los war. Meine Freundin klärte mich auf: „Der Oberlehrer hat deinen Roman unterm Tisch gefunden und mitgenommen.“


Der Lehrer nahm ihn genüsslich aus seinem Schreibtisch: „Die Hochzeit findet trotzdem statt“, las er laut vor und zerriss das Heft und warf es in den Papierkorb. Ich war stinksauer, hielt aber lieber den Mund. Er hatte mich an der spannendsten Stelle unterbrochen. Als ich während des Unterrichts wieder einmal so in die Lektüre vertieft war, spielte sich genau dasselbe ab. Ich solle zu Lehrerin Schmoll gehen und die Stunden eintragen lassen. Stolz marschierte ich los. Bei meiner Rückkehr saß der Lehrer verdutzt hinter seinem Schreibtisch. Was ist los fragte ich meine Freundin. Herr Schön war wieder zu meinem Pult gelaufen und holte das Buch hervor. Aber statt einem billigen Liebesroman hatte er diesmal die Bibel in der Hand. Mitnehmen und zerreißen, konnte er schlecht. Also legte er sie zurück und ich konnte wieder in Ruhe meine Bibelsprüche auswendig lernen für eine gute Note im Fach Religion.

Ich habe mir oft überlegt, ob es einen Gott gibt. Im Religionsunterricht wurde ich damit konfrontiert und auch mit anderen Religionen und -göttern. Ich überlegte mir, ob es nur einen Gott gibt oder ob es mehrere Götter gibt. Ob unser Pfarrer Recht hat. Mine Freundin besuchte den evangelischen Religionsunterricht. Sie stammte aus dem Osten und hatte den Religionsunterricht außerhalb der Unterrichtstunden, meist nachmittags. Manchmal im Ort, manchmal in der Nachbargemeinde. Wir hatten einige gemeinsame Lieder und ähnliche Gebete, aber wir sprachen nie darüber, um Streitereien zu vermeiden. Sie beharrte auf ihrem Glauben und verteidigte ihn und ich war eben katholisch und nicht evangelisch wie sie. Und als mein Opa starb, kam eben ein anderer Pfarrer, die ihm die letzte Ölung gab und ihn später auf dem letzten Weg begleitete.

 

Neben der Kirche und der Schule im Ort war ein ehemaliges Frauenkloster. Zu dem einige Gemeinden in der Umgebung gehörten. Diese hatten Zins abzuliefern bzw. Kirchengefälle oder Landgarben. Heute bezahlen die Leute halt Kirchensteuer. Wir suchten oft in der Umgebung nach Geheimgängen und meinten oft, diese entlang der alten Stadtmauer der noch zum Teil erhalten ist gefunden zu haben, Irgendwie war das Kloster geheimnisumwittert. Wir trafen uns einmal die Woche in den unteren Räumen. Manchmal kam der Pfarrer zu uns. Dann mussten wir uns benehmen. Er war ein älterer Herr und recht zurückhaltend. Das Kloster wurde inzwischen saniert und renoviert. Heute befindet sich darin eine Wohnung für den Pfarrer, Gemeindesäle und Wohnungen für Privatleute. 

 

In: In die Zukunft denken, Pfingst-Anthologie 1996, Hans-Alfred Herchen, (Hrsg.), Frankfurt/Main.