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Cloud statt Kant?

4.0" steht für die angekündigte vierte industrielle Revolution. Vernetzte autonome Systeme stellen ebenso vernetzte Produkte her, die ständig Daten liefern. Das Produkt wird dadurch laufend verbessert, die Effizienz gesteigert, die Wertschöpfungskette optimiert. Einheitliche Standards und Normen sorgen für eine reibungslose Kommunikation zwischen Mensch und Maschine. Daten sind das neue schwarze Gold.


Das Konzept, mit dem Österreichs Schüler auf die digitale neue Welt vorbereitet werden sollen, heißt „Schule 4.0". Der in den USA lehrende Germanist Fritz Breithaupt stellt sich diese in der Zeit so vor: „2036 werden Eltern schon für ihre fünf Jahre alten Kinder einen virtuellen Lehrer abonnieren. Die Stimme des Computers wird uns durchs Leben begleiten. Vom Kindergarten über Schule und Universität bis zur beruflichen Weiterbildung. Der Computer erkennt, was ein Schüler schon kann, wo er Nachholbedarf hat, wie er zum Lernen gekitzelt wird." Was für Breithaupt „der größte Fortschritt in der Bildung seit 250 Jahren" ist, klingt für andere eher nach George Orwells „1984".


Sind wir mit der „Schule 4.0" also auf dem Weg in eine Welt, wie sie Isaac Asimov schon 1954 in seiner Kurzgeschichte „The fun they had" beschrieben hat? Darin müssen die Kinder der Zukunft freudlosen Einzelunterricht durch „mechanische Lehrer" über sich ergehen lassen und können kaum fassen, wie toll die Kindheit früher einmal gewesen sein muss, als es tatsächlich noch so etwas wie menschliche Lehrer und vor allem Mitschüler gab. Die Realität der „Schule 4.0" in Österreich sieht anders aus, vor allem um einiges menschlicher. Zum Beispiel in der Ganztagsvolksschule Dopschstraße, die zu Österreichs Vorzeigeschulen in Sachen „e-education" zählt. Vor 20 Jahren schrieb Junglehrer Harry Axmann seine Abschlussarbeit über „Das Medium Computer in der Volksschule", seither setzt er das theoretisch Erarbeitete in der Schule direkt bei der Großfeldsiedlung in die Praxis um. War er einst noch froh über jeden „zusammengeschnorrten Computer", führt er heute stolz durch ein Schulgebäude, in dem es nicht nur Computerräume für die Freizeitgestaltung gibt, sondern neben zwei Computern auch einen Beamer und ein interaktives Smartboard in jedem Klassenzimmer. „Nur so kommt das Internet wirklich in den Unterricht", meint Axmann. Recherchen würden sichtbar gemacht, vernetztes Arbeiten sei viel leichter möglich. Was ganz schön anspruchsvoll klingt, sieht in der Praxis zum Beispiel so aus: Zum Üben der Malreihen des kleinen Einmaleins spielt die 2B heute „Mäuserennen".


Die Klassenlehrerin hat einen Satz schuleigener Tablets mitgebracht, die Kinder registrieren sich mit dem Vornamen, auf dem Smartboard wird neben jedem Namen eine Maus sichtbar. Sobald die Lehrerin das Spiel startet, bekommt jedes Kind Rechenaufgaben auf sein Display, pro richtiger Antwort rückt die Maus auf dem Smartboard ein Stück vor – „die Kinder lieben nun einmal den spielerischen Wettkampf“. Anschließend werden die Tablets wieder eingesammelt, weitergerechnet wird im Buch. Außerdem: „Wer hat heute Kehrdienst?“ Die 2B ist eine ganz normale Klasse, in der gebastelte Osternester aus buntem Papier von der Decke baumeln. In der Pause spielen die Kinder Tischtennis. Sie lernen wie alle anderen auch lesen, schreiben und rechnen und verwenden dabei manchmal Heft und Füllfeder, manchmal Tablet und Touchscreen.

„Es geht dabei immer um einen Mehrwert“, erklärt Harry Axmann. Neue Apps oder Programme mit den Kindern auszuprobieren dürfe nicht zum Selbstzweck werden: „Wir nützen die digitalen Medien nur dann, wenn das auch etwas bringt.“ Die Arbeit damit gehe nicht auf Kosten des „normalen“ Schreibens, Turnens oder Bastelns, sie sei ein Werkzeug neben anderen. Auf den Zeugnissen der Kinder ist ausgewiesen, dass sie eine „digital kompetente Klasse“ besucht haben. Diese „digitale Kompetenz“ hat für Assman drei Ebenen. Zur praktischen Anwendung von Software kommt das Verständnis für die Technologie dahinter sowie eine soziokulturelle Perspektive: „Wie wirkt das alles auf mich, wie auf die Gesellschaft?“ Man spricht bei diesen drei Ebenen oder Eckpunkten digitaler Bildung – in Anlehnung an den Ort im Saarland, in dem sie formuliert wurden – auch vom „Dagstuhl-Dreieck“.


Ähnliche Überlegungen dürften dem österreichischen „Schule 4.0“-Konzept zugrunde liegen, das die digitale Grundbildung ab kommendem Schuljahr zunächst für AHS-Unterstufen und NMS einführt, in einem späteren Schritt dann auch an den Volksschulen. Auch dabei geht es nicht um bloßes Anwenderwissen oder darum, möglichst viel Unterrichtszeit im Internet zu verbringen. Ziel ist vielmehr die Mündigkeit der Kinder: Sie sollen den Rechner bedienen, aber auch gestaltend damit umgehen sowie die eigene Medienbiografie kritisch reflektieren lernen. „International vorbildlich“ und „sensationell“ findet dieses Konzept Christian Swertz, der an der Uni Wien Medienpädagogik lehrt. Der vom Reformtempo des österreichischen Bildungssystems beeindruckte Wissenschaftler betont dabei die Schulautonomie, die es einzelnen Standorten freistellt, in welcher Weise – ob als eigenes Fach oder integriert in andere Fächer – die digitalen Grundkompetenzen erworben werden. Swertz bricht eine Lanze für den Einsatz digitaler Medien spätestens in der Volksschule.


Vor allem im Projektunterricht würden die Kinder so zur selbstständigen Auseinandersetzung mit einem Thema ermutigt. Er plädiert für einen entspannten Umgang mit digitalen Medien, die natürlich kein Allheilmittel seien: „Bisher hat die Informatik noch kein einziges pädagogisches Problem gelöst“, so Swertz. Sie stoße zudem immer wieder relativ rasch an ihre Grenzen, da sich das Verhalten eines einzelnen Kindes eben nicht vorhersagen lasse – woran etwa die Entwicklung brauchbarer „intelligenter tutorieller Systeme“ scheitere. Der Bildungswissenschaftler findet das erfreulich: „Abweichendes Verhalten ist aus pädagogischer Sicht wünschenswert.“ Schließlich gehe es bei Bildung auch darum, den Mut zu haben, anders zu denken und Neues auszuprobieren. Ständige Kontrolle und Normierung sind damit nicht kompatibel.

Doch auch dafür gibt es in Österreich Ansätze: Das Schulverwaltungssystem Sokrates Bund speichert seit Jahren alle Noten aller österreichischen Schüler zentral. Der Zweck der Datensammlung ist unklar, Medienpädagoge Swertz hält das System für „extrem problematisch“: Schließlich lassen sich damit Lernbiografien lückenlos kontrollieren und überwachen. Für Ralf Lankau, der an der FH Offenburg Webdesign unterrichtet, ist Überwachung im Internet ohnehin unausweichlich: „Das Netz ist eine technische Infrastruktur zur Kontrolle der Nutzer.“


Lankau sieht vor allem wirtschaftliche Interessen hinter der galoppierenden Vernetzung: „Die Digitalisierung aller Lebensbereiche dient nicht den Interessen der Menschen, sondern wenigen Digitalmonopolen.“ In seiner Streitschrift „Kein Mensch lernt digital“ weist er mit Verve auf die Gefahren einer überhasteten Digitalisierung der Schulen hin, die vor allem von Lobbyisten im Auftrag diverser Konzerne befeuert werde. In Verbindung mit der Kompetenzorientierung, die dem Unterricht Individualität und Originalität ausgetrieben habe, entwickle sich das Schulwesen zusehends in Richtung einer standardisierten, von Maschinen gesteuerten Beschulung durch Lerncomputer – was etwa der eingangs zitierte Fritz Breithaupt ganz offen als die Schule der Zukunft herbeisehnt.

Utopie oder Dystopie? Bekanntlich sah bereits der gute alte Platon durch die Einführung der Schrift den Untergang des Abendlandes heraufdämmern, und ein wenig Alarmismus scheint in der Bildungsdebatte eben dazuzugehören. Wachsamkeit ist aber durchaus angebracht. Konzerne wie Bertelsmann, die an der Digitalisierung verdienen wollen, verbreiten – auch auf Einladung des österreichischen Bildungsministeriums – seit Jahren Botschaften, die in etwa so klingen: „Die Zukunft der Bildung ist digital. Internet und Big Data werden Schulen und Hochschulen grundlegend wandeln. […] Rechenzentren erstellen über Nacht individuelle Lernpläne für jede Schülerin und jeden Schüler. Universitäten arbeiten mit Software, die für Studierende die passendsten Fächer inklusive der voraussichtlichen Abschlussnoten ermittelt.“ Abgesehen vom verstörenden Menschenbild, das hier unverblümt sichtbar wird, ist auch der Subtext solcher Aussagen unüberhörbar: Nur keine Bange, wir haben das Produkt, das euer altertümliches Bildungssystem zukunftsfit macht. Aber beeilt euch, der Zug fährt gerade ab!


Bildungsforscher Stefan Hopmann von der Uni Wien weist auf ein zentrales Missverständnis hin, dem angesichts der Debatte viele Entscheider erliegen: „Digitalisierungsprediger meinen, Unterricht sei Informationsvermittlung.“ Das sei ein folgenschwerer Irrtum: „Schule funktioniert, weil sie einen abgegrenzten Raum bietet, in dem gemeinsam Sinn erarbeitet werden kann. Lernen ist ein Akt sozialer Verständigung. Das kann Technik weder ersetzen noch simulieren.“ Hopmann warnt davor, wie weiland die Behavioristen dem Trugschluss zu erliegen, Lernen sei ein von Stimuli getriebener mechanischer Vorgang: „Das ist die Pisa-Fantasie, das ist die Kompetenz-Fantasie, aber es ist falsch.“


An der Schwelle zum 4.0-Zeitalter empfiehlt es sich, kurz innezuhalten und einen Blick genau 40 Jahre zurückzuwerfen, ins Buch „Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft“ von Joseph Weizenbaum. Der Pionier der künstlichen Intelligenz warnte bereits 1978 davor, Maschinen die Kontrolle über den Lernprozess von Menschen zu geben. Sein Buch ist auch ein Appell an die Lehrenden: Ein Lehrer, der sich „selbst als bloßen Trainer“ sehe und nur Ziele erreichen wolle, „die andere für ihn festgelegt haben“, erweise seinen Schülern einen schlechten Dienst: „Er fordert sie auf, sich zum bloßen ausführenden Organ der Befehle anderer zu machen, letzten Endes nicht besser als die Maschinen, die ihnen eines Tages ihre Funktion vielleicht abnehmen werden.“


Aus heutiger Sicht ist dieser Tag nicht mehr fern. Weizenbaum spricht sich entschieden dagegen aus, Bildung zu sehr auf die „mächtige Metapher“ Computer auszurichten, durch den wir zwar „viele Aspekte der Welt leichter verstehen können, der jedoch ein Denken versklavt, das auf keine anderen Metaphern und wenige andere Hilfsmittel zurückgreifen kann.“

Die Lehre aus der frühen Warnung des Vordenkers bringt Stefan Hopmann auf den Punkt. Er meint zur Frage der Digitalisierung: „Ja, stellen wir uns den virtuellen Welten – aber machen wir den Unterricht nicht virtuell.“

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