Als „Wien am Gebirge“ verspottete der Wiener Feuilletonist Anton Kuh einst seine Stadt, als sie plötzlich nicht mehr die Metropole der Donaumonarchie war, sondern die zu groß geratene Hauptstadt der Alpenrepublik. Das Bodenständig-Älplerische war dem urbanen Feingeist ein Gräuel, bald floh er nach Berlin. Vielleicht hätte ihm die Bezeichnung „Wien an der Loipe“ ja besser gefallen, ist der noble nordische Skisport doch wesentlich leichter mit eleganter Urbanität vereinbar als seine alpine Spielart mit all ihren Begleiterscheinungen. Denn ob es dem Dichter gefällt oder nicht: Die nördlichen Ausläufer der Alpen reichen nun einmal bis ins Stadtgebiet von Wien, und alle paar Jahre, wenn wie jetzt gerade einige Zentimeter Schnee und eine sibirische Kältewelle zeitgleich eintreffen, spurt das Sportamt der Donaumetropole dort bis zu acht Loipen. Noch städtischer läuft es sich freilich im Prater und auf der Donauinsel, doch das nordische Vergnügen im Schatten des Riesenrades währte in diesem Spätwinter nur wenige Stunden, wovon noch wenige kümmerliche, verspurte Schneereste zeugen.
Auf den Anhöhen im Wiener Westen hält sich hingegen eine durchgängige Schneedecke. Vier Loipen sind geöffnet und in gutem Zustand, drei davon mit öffentlichen Verkehrsmitteln problemlos erreichbar. Und wenn man auch jeweils ein paar Stationen mit dem Bus auf sich nehmen muss: Es handelt sich bei den Wiener Loipen durchwegs um auch touristisch lohnende Ziele, bei deren Besichtigung man Kultur und Sport auf ungewöhnliche Weise kombinieren kann.
Für Langläufer und Jugendstil-Interessierte gleichermaßen zu empfehlen ist etwa das Erholungsgebiet Steinhof, nur ein paar Busstationen von der U3-Haltestelle Ottakring entfernt. Bereits bei der Anfahrt durch ausgedehnte Schrebergartensiedlungen bietet sich ein prachtvoller Ausblick über die Stadt. Die zwischen verschlumpft und verwegen oszillierenden Gartenhäuschen bei der Haltestelle „Feuerwache Steinhof“ sind mit Hirschgeweihen geschmückt, ein paar verwitterte Villen aus der Kaiserzeit verbreiten entspannt rustikales Flair. Wenige Meter hinter der Feuerwache trifft man auf die Spuren einer abwechslungsreich angelegten Loipe, die viele Wege quer durch das weitläufige Naherholungsgebiet mit seinen Streuobstwiesen und Wäldchen erlaubt. An Wochenenden wird es von Wiener Familien gestürmt, während der Woche haben es wenige Langläufer und Spaziergänger für sich. Immer wieder rückt die von Otto Wagner erbaute Kirche zum Heiligen Leopold ins Blickfeld, die dem Hügel den volkstümlichen Namen „Lemoniberg“ beschert hat.
Die Kirche mit der goldenen (und nicht etwa zitronengelben) Kuppel zählt zu den Hauptwerken des vor hundert Jahren verstorbenen Stadtbaumeisters, der der Kaiserstadt wie wenige andere seinen Stempel aufdrückte. Schnallt man die Skier kurz ab, kann man sich also gleich auf das Otto-Wagner-Jahr einstimmen, das ab Mitte März mit einer großen Ausstellung im Wien Museum begangen wird. Die Kirche mit ihrem lichtdurchfluteten, unter anderen von Koloman Moser gestalteten Innenraum ist nur an Wochenenden zu besichtigen, bietet aber auch von außen einen majestätischen Anblick.
Es wäre nicht Wien, würde sich in unmittelbarer Nähe des erhebenden Kunstwerks nicht auch ein Blick in den tiefsten denkbaren Abgrund auftun: Ein Pavillon gleich nebenan beherbergt eine Dauerausstellung, die das Schicksal der hier gequälten und ermordeten Kinder dokumentiert – die Nationalsozialisten hatten die Pavillons der Heil- und Pflegeanstalt Steinhof in ein Zentrum der „Euthanasie“ umgewandelt.
Heiterer stimmt die Anfahrt zur nächsten Loipe im weiter nördlich gelegenen Schwarzenbergpark: Die Straßenbahnlinie 43 führt vorbei an Weingärten und hübschen Vorstadthäuschen in den verträumten Vorort Neuwaldegg. Von dort geht es mit dem Bus in drei Minuten zur Haltestelle Marswiese, wo die Loipe beginnt. Entlang der schnurgeraden Schwarzenbergallee führt sie stadtauswärts, mitten hinein in den Landschaftspark, den Graf Franz Moritz von Lacy im 18. Jahrhundert als einen der größten Parks des Kontinents anlegen ließ. 1801 erwarb die Familie Schwarzenberg die Anlage. Spaziergänger mit Hunden und eine oberhalb der Loipe angelegte Rodelwiese machen die Suche nach der Spur anfangs schwierig, doch je weiter man in den schier endlosen Park vordringt, desto ungestörter ist das Vergnügen. Das kleine Waldgasthaus „Zur Allee“ beim Einstieg ist eine willkommene Wärmestube.
Die landschaftlich lohnendste Wiener Loipe beginnt beim Cobenzl, wie der Hügel oberhalb des Weinorts Grinzing nach einem seiner früheren Eigentümer heißt. Kultur lässt sich hier in ihrer angenehmsten Form genießen: Im städtischen Weingut Cobenzl kann man Grünen Veltliner und Gemischten Satz, die an den Hängen der unmittelbaren Umgebung angebaut werden, sowohl verkosten als auch flaschenweise kaufen, natürlich erst nach dem Sport.
Auf die naheliegende Idee, einen Glühweinstand beim Loipeneinstieg zu eröffnen, ist man hier nicht gekommen – angesichts der recht anspruchsvollen, mit einigen hundert Höhenmetern Niveauunterschied aufwartenden 4-km-Runde ist das vielleicht auch besser so. So stört nur das gelegentliche laute Krachen der Bäume in der Eiseskälte die Ruhe hoch über der Stadt, nur selten kommen andere Langläufer entgegen. Man plaudert, gibt einander Tipps über lohnende Routen und Varianten, die Begeisterung ist allseits groß: „Wir sind einfach querfeldein zum Kahlenberg gelaufen“, erzählen Karo und Silja, die zum ersten Mal mitten in Wien auf Skiern stehen. Herrliche vier Stunden waren sie unterwegs, mal bei Schneetreiben, dann und wann haben die Wolken auch den Blick auf die Stadt freigegeben. „Das fühlt sich schon ganz besonders an.“ Auch Peter und Stefanie haben für ihre erste Wiener Langlauftour den Cobenzl ausgewählt, wo einem bereits beim Anschnallen der Skier die Stadt zu Füßen liegt. Der Gipfelsieg gleich zu Beginn sorgt für den richtigen Schub – denn es liegt halt doch am Gebirge, das nordische Wien.
Praktische Informationen:
Wiener Loipentelefon: +43 1 97 90 02 52 04
Überblickskarten: https://www.wien.gv.at/freizeit/sportamt/arten/winter/langlaufen.html
Skiverleih mit Langlaufausrüstung (12€/Tag): „fahrrad+ski“, Linke Wienzeile 128, 1060 Wien. +43 1 597 82 88. www.fahrrad-ski.at
Otto-Wagner-Kirche am Steinhof: Geöffnet samstags von 15-17, sonntags von 12-16 Uhr
Gedenkstätte am Steinhof – Pavillon V: www.gedenkstaettesteinhof.at
Waldgasthaus im Schwarzenbergpark: www.zurallee.com
Weingut Cobenzl: www.weingut-cobenzl.at