Manchmal sind auch zwei ganz einfache Wörter so gut wie unübersetzbar: Bonjour tristesse etwa. Niemand würde ernsthaft „Guten Tag Traurigkeit“ aufs Cover einer deutschsprachigen Ausgabe des 1954 erstmals erschienenen Romans schreiben wollen. Oder „Trauer willkommen“, wie Stephan Hermlin die Zeile des Gedichts von Paul Eluard übersetzt, dem der Titel entnommen ist. Keine Übersetzung kommt an die leichtfüßige Schwermut des Originaltitels heran, bei dessen Klang man gleich das eine oder andere Chanson von Juliette Gréco oder Françoise Hardy im Ohr hat, das ebenso nonchalant nostalgisch, verführerisch französisch und – gerade aus österreichischer, zum Peripheren verdammter Perspektive – so magisch mondän klingt.
Bonjour tristesse steht folglich auch auf dem Umschlag der nun bei Ullstein erschienenen Neuübersetzung des Romans. Dahinter ist ein Schwarzweißphoto sichtbar, das die ewig junge, 2015 im Alter von 69 Jahren verstorbene Autorin Françoise Sagan auf dem Fußboden sitzend zeigt, mit zerstrubbeltem Kurzhaarschnitt und schwarzem Rollkragenpulli, vor sich die Schreibmaschine, im Hintergrund ein typisches Pariser Altbaufenster. Sie wirkt wie eine Verkörperung des Mythos von Saint Germain des Prés, wo nicht nur Philosophen, Dichter und Jazzmusiker, sondern auch selbstbewusste Frauen den Ton angaben.
Zwei starke Frauen stehen auch im Mittelpunkt des Romans, den sich Françoise Sagan mit gerade einmal achtzehn Jahren von der Seele schrieb. Die junge Pariserin Cécile verbringt den Sommer mit ihrem Vater Raymond in einer Villa an der Côte d‘Azur. Raymond ist seiner Tochter mehr gleichgesinnter Kumpel als strenger Erzieher, die beiden verbindet sorglose Lebenslust. Dass Cécile gerade beim Baccalauréat – also der Matura – durchgefallen ist, beunruhigt sie beide nicht. Raymond nimmt alles auf die leichte Schulter, vor allem Liebesangelegenheiten, was wiederum Cécile gut verstehen kann, denn: „Ich war nicht in dem Alter, dem Treue etwas bedeutet. Rendezvous, Küsse, schließlich der Überdruss, das war alles, was ich von der Liebe wusste.“ Bald wird sie mehr darüber lernen, denn während Raymond mit der Nachtclub-Schönheit Elsa turtelt, lernt Cécile einen Studenten namens Cyril kennen. „Ich begriff, dass ich begabter dafür war, einen Jungen in der Sonne zu küssen, als ein Diplom abzulegen“, schreibt die Erzählerin in ihrer lakonischen Art, der jegliches Mitleid mit den Figuren, sich selbst eingeschlossen, fremd ist.
Als Anne in der Villa eintrifft, eine alte Bekannte von Céciles verstorbener Mutter, scheint es mit der Unbekümmertheit vorbei zu sein. Die faszinierende, intellektuelle und wirtschaftlich erfolgreiche Frau Anfang vierzig entspricht zwar nicht dem Beuteschema des notorischen Playboys Raymond, der sich sonst stets mit jüngeren Freundinnen umgibt, doch für sie will er sein Leben ändern. Sogar von Heirat ist die Rede, Anne begeht jedoch einen folgenschweren Fehler: Sie versucht, Cécile zu erziehen, woraufhin diese aus gekränktem Stolz eine heimtückische Intrige schmiedet. Dass sie nebenbei von Cyril in die Geheimnisse der körperlichen Liebe eingeweiht wird, verschaffte dem Buch das verkaufsfördernde Etikett „Skandalroman“. Aus heutiger Sicht ist die Aufregung kaum verständlich, wirken die entsprechenden Passagen der vor allem intellektuell frühreifen Erzählerin doch eher streb-, als sündhaft: „Die Wörter „Liebe machen“ hatten für sich eine verführerische Kraft, ganz auf der sprachlichen Ebene, wenn man sie von ihrem Sinn löste. Dieser so materielle, positive Ausdruck „machen“, verbunden mit der abstrakten Poesie des Wortes „Liebe“, begeisterte mich.“
Auch wenn solche Sätze aus der Feder einer 18-Jährigen heute nicht mehr zu schockieren vermögen, vermindert dies den Reiz des Textes keineswegs: Zum einen hat der Roman einfach Stil, und damit ist nicht nur die Gabe der Erzählerin gemeint, ihre Beobachtungen und Erlebnisse in formvollendete Sätze zu gießen, sondern auch ein Leitprinzip im Alltag der Villa am Meer benannt: Man tanzt zwar zu Bepop, trinkt reichlich Whisky und ist alles andere als sittenstreng, doch bei der Garderobe oder in der Kunst der gepflegten Konversation ist nicht die geringste Schlamperei erlaubt. Hier sei nur eine einzige Regel aus dem strengen Verhaltenskanon des französischen Savoir-vivre der 1950er Jahre genannt: Bis zur ersten Liebesnacht siezt man einander selbstverständlich auch unter Teenagern. Erwachsene können danach zum Du übergehen, müssen aber nicht. In seiner Neuübersetzung überträgt Rainer Moritz die Eleganz des Romans souverän ins Deutsche. Wie das Original lässt sie ihre Leser mit scheinbar spielerischer Leichtigkeit scheinbar sorgenfreie Sommertage an der Côte d’Azur durchleben, hinter denen doch das Unerträgliche von Seite zu Seite deutlicher spürbar wird.
Neben der Schönheit des Textes bleibt auch der eigentliche Skandal dieses Romans bestehen, den das zeitgenössische Publikum oft übersehen hat: Die unschuldig wirkende Perfidie, mit der nicht nur eine Frau in den Tod getrieben, sondern dieser auch noch als „prächtiges Geschenk“ uminterpretiert wird, die elegant verbrämte seelische Rohheit, mit der Cécile und Raymond es verstehen, über das tragische Ende dieses Sommers, der so glücklich begonnen hat, hinwegzukommen. Das Wort „glücklich“ dient der Erzählerin dabei stets zur Verklärung einer als unbeschwert erinnerten Vergangenheit. Sogar den ersten Kuss versucht sie mit den Worten „Cyril, wir waren so glücklich…“ abzuwehren. Glück ist für Cécile das Freisein von jeglicher Bindung und Verantwortung, aufrechterhalten lässt es sich nur in Form ständiger Flucht oder als Lebenslüge. Das ist ihr auch bewusst, wenn sie nun immer wieder gegen die hochsteigende Erinnerung ankämpft. So richtig bittersüß schmeckt die mühsam hinuntergeschluckte Traurigkeit aber nur, wenn man sie auf Französisch begrüßt: Mit Bonjour tristesse.
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