Gemma, euer Gnaden!
Emmanuel Macron, Favorit im französischen Präsidentschaftswahlkampf, entzieht sich Festlegungsversuchen
Nicht schlecht für einen Anfänger: Emmanuel Macron, 39, bestreitet gerade den ersten Wahlkampf seines Lebens. Vor drei Jahren kannte ihn kein Mensch. Heute ist er der klare Favorit im Rennen um das Amt des französischen Staatspräsidenten.
Viel hat er von amerikanischen Wahlkämpfen gelernt, vom Tür-zu-Tür-Campaigning auf Basis von Big Data bis zu Auftritten ohne Pult inmitten enthusiasmierter junger Menschen aus gutem Hause. Dabei hat er wenig von einem Volkstribun, sein Charme entspricht den kühlen Blautönen des guten Tuchs, in das er stets gehüllt ist. Auf Provokationen reagiert Macron mit gedrechselten Sätzen, die jede Emotion erdrosseln. Wettert er einmal gegen den US-Präsidenten „Monsieur Trömp“, wirkt sein Zorn einstudiert. Und selbst wenn er sich gelegentlich vor dem Mikro heiser brüllt, spürt man, wie sehr sich der Mann auch dabei noch unter Kontrolle hat.
Etwas kopflastig klingen auch die Unterstützungserklärungen für den Senkrechtstarter, die in letzter Zeit vermehrt von unerwarteter Seite kommen: Der altgediente linke Protestsänger Renaud erklärt auf Facebook mit gerecktem Stinkefinger, Macron sei die „einzige Alternative zu den Fillons und Le Pens“. Ex-Premier Manuel Valls, Macrons Intimfeind zu dessen Zeit als Wirtschaftsminister, will entgegen der Parteiräson nicht den sozialistischen Kandidaten Benoît Hamon wählen, sondern Macron – zwar „nicht fröhlichen Herzens“, doch dies sei „die Wahl der Vernunft“.
Er bringt damit die Stimmung vieler auf den Punkt: Wäre es der Linken gelungen, sich auf einen gemeinsamen Kandidaten zu einigen, und hätte sich der Konservative Fillon nicht selbst um jegliche Glaubwürdigkeit gebracht – wohl kaum würden die gemäßigten Lager der beiden großen Blöcke in der derzeit zu beobachtenden Geschlossenheit zu Macrons vor einem Jahr gegründeter Wahlbewegung „En marche!“ überlaufen, deren Namen man in Österreich mit „Gemma!“ übersetzen könnte.
Macron ist aber weit mehr als ein geschickter Taktierer, der die Gunst der Stunde zu nützen weiß. Hinter seinem Antreten stehen ein seit Langem gehegter Wille zur Macht, eine gründliche Analyse der Situation und perfektes Timing. In einem Land, in dem nur noch zwölf Prozent der Bevölkerung Vertrauen zu den etablierten Parteien haben, verleiht ihm die neu gegründete Bewegung eine Frische, die seine Gegner automatisch alt aussehen lässt.
Dazu kommen seine Lust am Tabubruch und die Begabung, Sachverhalte ohne Politikerphrasen auf den Punkt zu bringen. Egal ob er von der Notwendigkeit einer vertieften Integration des Euro-Raums spricht oder von „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ bei der Eroberung Algeriens, ob er festhält, dass an den Pariser Terroranschlägen vom November 2015 auch die französische Gesellschaft „einen Teil der Verantwortung“ trage, oder ob er sich weigert, von „einer französischen Kultur“ zu sprechen, da es zwar „Kultur in Frankreich“ gebe, diese aber vielfältig sei – Macron fordert Widerspruch heraus und stellt sich lustvoll Diskussionen, in denen er aufgrund seiner analytischen Schärfe brillieren kann.
Gleichzeitig löst er bei vielen Beobachtern Unbehagen aus. Etiketten bleiben an dem oft aalglatt wirkenden Quereinsteiger kaum haften. Sicher, er ist klar pro-europäisch, vertraut auf die Integrationskraft der Gesellschaft und weigert sich, Angst als Mittel der Politik einzusetzen. Doch Macron, der nie vom Reformieren („réformer“), sondern stets vom Neugründen („refonder“) spricht, entzieht sich Definitionen. Das beginnt früh: Macron war Zögling einer Jesuitenschule, gibt aber als prägende Figur seiner Kindheit die Großmutter an, eine stramm republikanische Volksschullehrerin. Er war sozialistischer Minister und verehrt Jeanne d’Arc, die er nicht den Rechtsextremen überlassen will. Er definiert sich als liberal und verteidigt den traditionell starken Staat in Frankreich. Er war ein erfolgreicher Investmentbanker, hat aber auch Philosophie studiert und seine literarischen Ambitionen nie aufgegeben.
In einem Interview mit der Zeitschrift „L‘Histoire“ bekennt sich Macron zu den Schwierigkeiten einer eindeutigen Positionierung: „Ich bin froh darüber, einer Zeit der Neudefinitionen anzugehören. Alles muss neu betrachtet werden.“ Er spricht von bevorstehenden Umbrüchen, die er in ihren Auswirkungen mit dem Ende des römischen Reiches vergleicht: „Die Welt, die vor uns liegt, ist weitgehend unbekannt, doch es gibt keinen Grund sich zu fürchten.“
Großen Wert legt er auf Präzision in der Wortwahl – „Man muss die Wirklichkeit benennen können, um richtig mit ihr umzugehen“ – und verweist auf seine Prägung durch die Literatur. Als die beginnende Beziehung zu seiner Französischlehrerin aufflog und er Amiens verließ, um Gras über die Sache wachsen zu lassen (was bekanntlich misslang), begann der Vielleser einen Marsch durch die Eliteschmieden: Nach dem Gymnasium Henri IV in Paris schloss er ein Philosophiestudium ab und wurde zum Schüler und Mitarbeiter Paul Ricoeurs, absolvierte das Pariser Institut für politische Studien und danach die Ecole Nationale d’Administration (ENA) in Straßburg, die bis auf wenige Ausnahmen von der gesamten die Wirtschaft und Politik Frankreichs bestimmenden Kaste durchlaufen wird.
Seine intellektuelle Biographie ist Teil der Ambivalenz Macrons: Der Kandidat der Erneuerung ist ein Vorzeigeprodukt des Systems, das er überwinden will. Wie glaubwürdig seine öffentliche Ablehnung der Geschlossenheit französischer Machtzirkel ist und ob er es wirklich schafft, die „Tyrannei der Parteien“ zu überwinden, muss sich erst zeigen.
Jacques Attali, eine der grauen Eminenzen der französischen Politik, sieht in Emmanuel Macrons Persönlichkeit eine Kombination aus der Intelligenz des oft unterschätzen François Hollande, den Macherqualitäten Nicolas Sarkozys und der umfassenden Bildung François Mitterrands. Ein Land, dessen Präsident nach wie vor als Inkarnation des 1793 geköpften Monarchen gilt und eine entsprechende Machtfülle genießt, öffnet einem Mann dieses Zuschnitts gewisse Möglichkeiten.
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