Eine Horrorvision: Vor dem Abheben und nach der Landung dröhnt aus dem Lautsprecher von Alitalia-Maschinen jedes Mal "O sole mio". Die Air France empfängt und verabschiedet ihre Passagiere nur noch mit Jacques Offenbachs Höllen-Cancan. Iberia beschallt die Kabine mit dem "Toreador" aus Carmen. In der Austrian-Endlosschleife läuft der Donauwalzer.
Nun ist in Österreich bekanntlich seit je alles erlaubt, was anderswo aus Gründen des guten Geschmacks verboten ist. Womöglich gab es aber doch Beschwerden - denkbar etwa nach Flügen mit verzögerter Starterlaubnis. Jedenfalls liess die österreichische Fluggesellschaft ihre Kunden befragen, wie es ihnen mit der walzerseligen Begrüssung so geht: 76 Prozent finden sie gut.
Eine strapazierfähigere Melodie wird man vergeblich suchen; selbst ihre Verwendung als Notdurft-Hintergrundmusik in der bei Touristen beliebten Vienna Opera Toilet kann ihrer Aura nichts anhaben. Schliesslich ist sie auch dafür geschaffen worden, widrigen Bedingungen zu trotzen: Bei ihrer Uraufführung im Februar 1867 lag bleierne Trübsal über Wien, das die verheerende Niederlage gegen die Preussen bei Königgrätz noch lange nicht verwinden sollte. Aussenpolitisch gedemütigt und im Inneren geschwächt, ging die Monarchie von nun an spürbar ihrem Zerfall entgegen.
In diese allgemeine Tristesse hinein schrieb der k. k. Hofballmusikdirektor Johann Strauss seinen Walzer "An der schönen blauen Donau", der ursprünglich gesungen wurde. "Wiener seid froh - Oho, wieso? - No, so blickt nur um! - I bitt, warum? - Ein Schimmer des Lichts . . . - Wir seh'n noch nichts!", heisst es darin. Kein Wunder, dass der Donauwalzer bald als heimliche Hymne Österreichs oder zumindest Wiens galt, wenn auch nicht in der satirischen Original-, sondern in der mitreissenderen Instrumentalversion.
"Wir Schriftsteller zeigen der Welt, wie elend sie ist - Strauss zeigt uns, wie schön sie sein kann", soll Emile Zola über den Geniestreich des Walzerkönigs gesagt haben, für den die zeitgenössische Presse das Wort Schlager erfand. Der Donauwalzer erklang, als im April 1945 die Unabhängigkeit Österreichs ausgerufen und zehn Jahre später das erste Fernsehprogramm des Österreichischen Rundfunks ausgestrahlt wurde. Heute noch scheint in Österreich ein Jahreswechsel ohne pünktlich zu Mitternacht getanztem kollektivem Donauwalzer unvorstellbar - egal ob in der Après-Ski-Bar in den Alpen, in der Wiener Innenstadt oder in Filzpatschen zu Hause vor dem Fernseher.
Erklärungsversuche für die Robustheit der Melodie, die auch in Stanley Kubricks "2001: A Space Odyssey" durch den Weltraum schallt, gibt es zuhauf. Einen der originelleren trug jüngst ein Wiener Psychoanalytiker vor, der die an- und abschwellende Intensität des Walzers recht direkt erotisch deutete. Wie primitiv sich Ravels "Boléro" gegen das raffiniert zu multipler Ekstase führende Wiener Liebesspiel auf einmal ausnimmt!
Aus den Klauen derjenigen, die die Strausssche Melodie zu ihren schwerverdaulichen Marketingsüppchen verkochen, wird sie auch in den nächsten 150 Jahren nicht zu lösen sein. Daran ändert auch die gern grosszügig übersehene Tatsache nichts, dass der Schöpfer des trostreichen Walzers zwanzig Jahre nach der Uraufführung seine Staatsbürgerschaft ablegte - und Deutscher wurde.
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