... aber praktisch wird es immer kompliziert, wenn die Politik jungen Müttern und Vätern mehr Zeit für ihre Kinder verspricht. Reförmchen bringen da gar nichts, sagt der Sozialwissenschaftler Stefan Sell
chrismon: Manuela Schwesig, die Bundesfamilienministerin, hat
vorgeschlagen, junge Mütter und Väter nur noch 32 Stunden arbeiten zu
lassen und ihr Gehalt aus Steuermitteln aufzustocken. Was halten Sie
davon?
Stefan Sell: Zumindest theoretisch
halte ich das für eine richtige und tolle Idee, weil sie das zentrale
Problem anspricht: Arbeitgeber neigen nämlich immer noch dazu,
Arbeitszeitverkürzung auf ein „Frauenthema“ zu reduzieren. Wenn sie
können, stellen sie Männer ein, weil das Risiko geringer ist, dass sie
ausfallen oder pünktlich gehen müssen, um ihr Kind abzuholen. Wenn sich
jetzt beide Eltern kümmern, ist das „Risiko Kind“ gleichmäßig verteilt.
Diskriminierung ist nicht mehr so leicht möglich – und später bekommt
die Frau so viel Rente wie ihr Mann.
Warum ist der Vorschlag von Frau Schwesig dann nur theoretisch eine gute Idee?
Ich glaube nicht, dass er einen großen Effekt haben würde: Momentan
arbeiten nur ein Prozent der Eltern beide in reduzierter Vollzeit. Frau
Schwesigs Vorschlag ist vom Tisch; würde er aber umgesetzt, beträfe es
am Ende wahrscheinlich trotzdem nur zwei Prozent der Eltern. Es gibt zu
viele Anreize, die Frauen trotz allem daran hindern, mehr zu arbeiten:
Ehegattensplitting, Minijobs und die kostenlose Krankenversicherung.
Solange man das nicht abschafft, wird sich das neue Modell kaum spürbar
auswirken.
Die Große Koalition will stattdessen das Elterngeld ausweiten. Ist das sinnvoller?
Nein. Das sind verständliche Optimierungsversuche in einem bestehenden
System. Elterngeld plus heißt: Man kann künftig das Elterngeld strecken,
von 14 auf 28 Monate, und gleichzeitig bis zu 30 Stunden arbeiten. Der
positive Effekt, dass sich beide gleichermaßen ums Kind kümmern, geht
hier fast vollständig verloren.
2010 haben fast 20 Prozent weniger Frauen Vollzeit
gearbeitet als noch 1991. Gleichzeitig wünscht sich fast die Hälfte der
Frauen in Teilzeitbeschäftigungen mehr Arbeit. Wie erklären Sie sich
diese Diskrepanz?
Das kann ich nur vermuten. Insgesamt arbeiten mehr Frauen als früher,
aber eben nicht auf Vollzeitstellen: Weil es diese Stellen in ihrer
Umgebung nicht mehr gibt oder die benannten finanziellen Anreize sie
davon abhalten. Auch das Familienbild spielt eine Rolle. In Gesprächen
erlebe ich oft, dass junge Leute heute konservativer eingestellt sind
als in den 1980er Jahren. Die Familie ist ihnen wichtig, gleichzeitig
sind sie gut qualifiziert und deshalb hin und her gerissen. Davon
abgesehen befürchte ich – so ideologisch wünschenswert eine gleiche
Arbeitsverteilung wäre –, dass es eine anthropologische Disposition
gibt, die Männer tendenziell davon abhält, sich mehr um kleine Kinder zu
kümmern. Zumindest arbeiten viel mehr männliche Erzieher in
Jugendheimen als im Kindergarten.
Wenn junge Leute heute
konservativer sind als ihre Elterngeneration in den 1980ern: Warum sind
dann damals so viele Mütter zu Hause geblieben?
Das hatte vor allem mit den ökonomischen Verhältnissen zu tun: Die 70er
und 80er Jahre waren eine historische Ausnahme: Dass man als
alleinverdienender Facharbeiter ein Haus bauen konnte, war vorher und
hinterher nie wieder möglich. Noch in der Weimarer Republik haben die
Frauen mehr gearbeitet als heute, einfach weil sonst das Geld nicht
gereicht hätte. Nur das höhere Bürgertum war davon ausgenommen. Nach dem
Krieg wollte man diesen Luxus mehr Leuten ermöglichen, was aufgrund
wirtschaftlich goldener Zeiten ja auch bald funktioniert hat. Heute
haben gerade kleinere Einkommen real an Wert verloren. Außerdem sind
die Ansprüche gestiegen: Manche Leute denken, sie bräuchten ständig
ein neues Smartphone.
Wie müsste Ihrer Meinung nach eine gerechte Familienpolitik aussehen?
Wir müssen weg von immer neuen Reförmchen, die eine Grundsatzdebatte
verhindern. Ich würde Krankenversicherungsvorteile, Minijobs und
Ehegattensplitting abschaffen und ein Kindergrundsicherungsmodell
einführen: Wenn Eltern wenig verdienen, bekommt das Kind bis zum 18.
Geburtstag 550 Euro pro Monat, bei höherem Einkommen gibt es
Leistungen in Kindergeldhöhe. Das würde auch von Kinderarmut Bedrohten
gerecht werden, die vom Elterngeld am wenigsten profitieren. Darum
geht es. Dass Akademiker mehr Kinder bekommen, erreicht man mit dem
Elterngeld nämlich sowieso nicht. Außerdem muss das Renten-system an
die neuen, flexibleren Arbeits- und Auszeiten angepasst werden. Wer
heute wegen Kindern oder pflegebedürftigen Angehörigen wenig arbeitet,
kann von der Rente später nicht mehr leben.
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