"Kommt in mein Büro", sagt der Schlichter kurz angebunden am Telefon und legt auf, ohne uns zu erklären, wo dieses Büro liegt. Nachdem wir im Zentrum von Shkodra, einer Stadt im Nordwesten Albaniens, herumgefragt haben, stellt sich heraus, dass Nikoll Shullani gar kein Büro hat, sondern an einem wackeligen Tisch in einer Bar namens Fiesta arbeitet, die mit lauter Popmusik beschallt und von Rauchschwaden durchzogen ist. Wir haben November, und eine Kältewelle ist hereingebrochen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis in den Bergen nordöstlich von Shkodra Schnee fällt.
Nikoll Shullani ist ein Mann Mitte 60, der dicke Hals verschwindet in einem bis oben zugeknöpften, schwarzen Mantel. Am Finger trägt er einen goldenen Ring, der das Haupt der Medusa zeigt, der Frau mit den Schlangenhaaren aus der griechischen Mythologie. Passend dazu trägt er eine goldene Uhr und ein goldenes Armbändchen.
So gar nicht zu seiner Erscheinung passt seine Stimme, die ungewöhnlich schrill und hoch ist. Beim Reden hebt er seinen dicken Zeigefinger, richtet ihn über den Tisch auf mich und spricht langsam, mit bedächtiger Stimme. "Der Kanun wird bis heute angewandt, weil der Rechtsstaat rückständig ist und die Menschen deswegen zur Selbstjustiz greifen", das ist einer dieser Sätze, die Shullani oft sagt.
Weihnachten, erzählt Shullani, sei für seinen Beruf ein wichtiges Datum. "Es gibt drei Feiertage, an denen Blutrache-Fehden traditionell geschlichtet werden - Weihnachten, Ostern und Bajram." Ob ich wisse, was Bajram ist, fragt Shullani. Ich nicke. Im Sommer war ich bei Aidas Familie im Westkosovo eingeladen gewesen, sie ist eine gute Freundin und auch die Übersetzerin meines Buches. Mit der Familie haben wir dieses muslimische Fest gefeiert, bei dem nach dem Fastenmonat Ramadan ein Schaf geschlachtet wird. Shullani nickt zufrieden und zündet Aida eine Zigarette an, während er seine linke Hand auf die Brust legt, ein Zeichen, dass er mit uns warm geworden ist.
Bei den Versöhnungen, erzählt Shullani, lege er eine Bibel oder einen Koran auf den Tisch, je nachdem, welches Bekenntnis die Familien hätten: "Dann müssen sie das Buch umdrehen und das Blut vergeben."
Shullani kommt aus Lotaj, einem kleinen Bergdorf am Shales-Fluss, der im Nationalpark Theth entspringt. Die wenigsten Touristinnen, die zum Wandern nach Theth reisen, wissen, dass es in der Gegend immer noch Familien gibt, die in Blutfehden verstrickt sind. Shullani vermittelt zwischen den verfeindeten Sippen - wie schon sein Vater und sein Grossvater vor ihm. Er ist der Vorsitzende einer Versöhnungsorganisation, die ihren Sitz in Shkodra hat.
Unter Enver Hoxha, erzählt Shullani, sei die Blutrache erfolgreich bekämpft worden. Während des Zweiten Weltkriegs, als Albanien zuerst von italienischen, dann von deutschen Faschisten besetzt war, gründete Enver Hoxha die Kommunistische Partei mit. Nach dem Sieg über die Nazis stieg er zum sozialistischen Diktator auf. Bis zu seinem Tod 1985 regierte er mit eiserner Faust und verwandelte Albanien in eine Art "Nordkorea Europas". Der sozialistische Staat habe hart gegen all jene durchgegriffen, die den Kanun befolgten, sagt Shullani.
Zum Original