Marijas Grab liegt am Ende des Friedhofs, dort, wo das freie Feld beginnt. Es sieht aus wie jede andere katholische Grabstätte auch - weisser Marmor, bunte Plastikblumen, rote Kerzen, Marienstatuen, Kreuze. Zwei ovale Fotografien sind in den Stein eingelassen. Eine zeigt Marija, eine junge Frau mit weisser Bluse und offenen Haaren; auf der anderen Hälfte des Grabsteins prangt das Bild eines älteren Mannes im Anzug, es ist ihr Grossvater Kolë, der ernst in die Kamera blickt. Der in den Stein gravierte Sterbetag lautet - 14. Juni 2012. Der Ort fehlt.
Fragt man jedoch Menschen aus der Gegend, dann erzählen sie. Marija und ihr Grossvater starben in einem kleinen Dorf in den nordalbanischen Bergen, so abgelegen, dass es nur mit Geländewagen zu erreichen ist. Sie sind weder im Auto verunglückt noch beim Wandern abgestürzt. Enkelin und Grossvater starben als Opfer von Blutrache, einer bis heute vor allem im Norden Albaniens verbreiteten Praxis, die auf einem jahrhundertealten Gesetz beruht, dem Kanun. Bei der Blutrache regeln Menschen Konflikte untereinander, ohne den Rechtsstaat. Man könnte auch Selbstjustiz dazu sagen - oder Krieg der Sippen.
Von der Blutrache hatte ich schon gehört, bevor ich nach Albanien kam. Ich wusste, dass es bis heute Familien geben soll, die ihr Haus nicht verlassen, aus Angst, von einer verfeindeten Sippe erschossen zu werden.
Ich dachte, dass es nicht mehr als eine Handvoll sein können.
Nach meiner Ankunft in Albanien lernte ich die 60-jährige Liljana Luani kennen, eine Lehrerin, die seit 15 Jahren Kindern aus Blutrache-Familien Hausunterricht gibt, weil sie ihre Häuser nicht verlassen können. Insgesamt viermal trafen wir uns in Shkodra, einer Stadt im Nordwesten Albaniens, unweit der Grenze zu Montenegro, wobei Luani mir bei jedem Treffen ein bisschen mehr erzählte: von Schülern, die mit Polizeieskorte zur Abschlussprüfung begleitet werden müssen, weil die Gefahr besteht, dass sie erschossen werden. Und von den Ausflügen, die Luani ein paarmal im Jahr für diese Jugendlichen und Kinder organisiert, damit sie das Meer und den Strand sehen, anstatt immer nur die eigenen vier Wände. "Diese Kinder hören die ganze Zeit nur, wer aus ihrer Familie wen rächt", sagt Luani, "ich möchte, dass sie einmal an etwas anderes denken."
In Dobraç, einem Vorort von Shkodra, sprach ich mit einer bayerischen Nonne namens Schwester Christina, eine Frau, die 1999 wegen des Kosovo-Kriegs in die Region gekommen und seitdem geblieben ist. Sie spricht fliessend Albanisch, lebt seit 20 Jahren hier - und leitet ein Kloster, eine Ambulanz und einen Kindergarten.
Dobraç ist bekannt für Bandenkriege, Drogenhandel und Prostitution, eine Siedlung am Stadtrand, in der es immer wieder zu Festnahmen und Razzien kommt. Mehrere Familien leben in Blutrache zueinander. Schwester Christina erzählt, dass sie mehrmals in den Lauf einer "Knarre" geblickt habe, weil sie versucht habe, zwischen den Familien zu vermitteln. Ihre Angst hat sie mittlerweile abgelegt. "Sonst müsste ich gleich meine Koffer packen und gehen", sagt sie und zuckt mit den Achseln.
Schwester Christina, eine Frau mit violettem Schleier und grauem Habit, sitzt auf der Kante ihres Bettes, ein Kruzifix an der Wand und eine Bibel auf dem Nachtkästchen. Blutrache, so die Nonne, sei für sie nichts anderes als eine "dunkle Religion", mit der sie täglich konfrontiert sei.