Im Süden von Kosovo findet das DokuFest, eines der schönsten Filmfestivals Südosteuropas, statt. Der Fluss wird zum Freiluftkino, das Basketballfeld zur Rave-Arena. Wer kein Hotel findet, wird von einer einheimischen Familie aufgenommen.
Zwanzig Minuten bevor der Film beginnt, ruft der Imam zum Gebet. Für ein paar Minuten hebt sich sein Gesang über den Lärmpegel der Stadt - die röhrenden Autos, das Stimmengewirr in den Strassen, die albanische Pop-Musik in den Rakia-Bars und Grillrestaurants. Von den Minaretten tönt der Gesang bis zur mittelalterlichen Burg hinauf, die über der Stadt thront. Es ist ein mahnender Ruf, dem niemand folgt.
Am Eingang der Burg hat jemand einen Kühlschrank angeschlossen und verkauft Bierflaschen. Die Besucher lassen sich in einer Arena mit Holzbänken und Sitzpolstern nieder. Vor ihnen eine weisse Leinwand, über ihnen der Mond. Man hört das Rascheln von Papiertüten, in die das Burek der stadtbekannten bosnischen Bäckerei eingewickelt ist. Zigaretten glimmen in der Dunkelheit. Bevor der Film beginnt, hält man einen Moment inne - gibt es einen schöneren Ort, um ins Freiluftkino zu gehen?
Prizren ist eine von den Osmanen geprägte Stadt im Süden von Kosovo, umgeben von Gebirgszügen, unweit der Grenze zu Albanien und Mazedonien. Einmal im Jahr, Anfang August, verwandelt sich die verschlafene Altstadt in einen Ameisenhaufen. Die Hotels sind ausgebucht und die Strassen zuparkiert. Über 25 000 Besucher gab es dieses Jahr, davon auffallend viele aus der Schweiz. Die Diaspora reist zum Heimaturlaub an. Viele machen in Prizren halt, um mit Freunden und Verwandten Kaffee zu trinken.
Grund für den Auflauf ist das DokuFest. In Kosovo, dem jüngsten Staat Europas, ist das Filmfestival eine Kulturinstitution, die über die Landesgrenze hinweg wahrgenommen wird: Das amerikanische Magazin "Movie Maker" wählte es in seine Liste der "25 coolsten Filmfestivals der Welt". Auf neun Tage verteilt werden über 180 Dokumentationen und Kurzfilme gezeigt. Untertags in abgedunkelten Kino- oder Theatersälen, in denen man in bequemen Klappsesseln versinkt, während die Ventilatoren surren, am Abend unter freiem Himmel. Am Ufer des Lumbardhi-Flusses, über den sich eine wunderschöne, von den Osmanen gebaute Steinbrücke spannt. Oder oben auf der Festung - ein Kulturdenkmal aus dem 11. Jahrhundert.
Eine ganze Nachkriegsgeneration ist mit dem DokuFest aufgewachsen. Menschen wie der junge Regisseur Leart Rama, 22, der als Nachwuchstalent in der Filmszene von Kosovo gilt. Es ist eine kleine Industrie, die sich nach dem Krieg selbst erfinden musste und heute mit fehlender Förderung zu kämpfen hat. Rama macht Filme, seit er 16 Jahre alt ist, oft mit autobiografischem Charakter. Das DokuFest bezeichnet er als "meine zweite Familie".
Hier hat er sein Handwerk gelernt und seine ersten Filme gedreht. Mittlerweile steht sein Name selbst im Programmheft. Sein neuester Film "Seam" feierte dieses Jahr Premiere am DokuFest. Er handelt von einem jungen Mann, der in einer traditionellen, konservativ geprägten Kleinstadt in Nachkriegskosovo aufwächst, Schauspieler werden will, aber sich das Leben nimmt.
Rama war vier Jahre alt, als das DokuFest 2001 zum ersten Mal stattfand, zwei Jahre nach dem Krieg. Das Festival ist somit älter als der Staat, der 2008 seine Unabhängigkeit von Serbien erklärte. Bis heute schwelt der Konflikt mit dem Nachbarn, der die Abspaltung seiner mehrheitlich von Albanern bewohnten ehemaligen Provinz nie anerkannt hat. Beide Länder - Kosovo und Serbien - wollen Teil der Europäischen Union werden.
Der Weg dorthin ist so holprig wie das Kopfsteinpflaster in Prizren. Ein seit 2011 von Brüssel forcierter Normalisierungsdialog führte ins Nichts. Es sind junge Menschen wie Leart Rama, die die Blockade zu spüren bekommen. Kosovo ist das einzige Land Europas, dessen Bürger nicht visafrei in den Schengen-Raum einreisen dürfen. Wenn Rama ins Ausland eingeladen wird, um seine Filme zu zeigen, muss er meist absagen, weil ihm die Botschaften kein Visum ausstellen.
Wie ist das, im eigenen Land eingesperrt zu sein? Die niederländische Regisseurin Katja Verheul hat es in ihrem Kurzfilm "Toni and Bleri" humoristisch auf den Punkt gebracht. Da stehen zwei Kosovo-Albaner auf einem Flachdach der Hauptstadt und bauen eine Rakete, um abzuhauen. "Wir sitzen in einem Land fest, das jeder betreten kann", sagt einer der Brüder zum anderen.
Der Dialog beschreibt ein Paradoxon: Über die Jahre hat Pristina Hunderte von Entwicklungshelfern, Diplomaten und Beamten kommen und gehen sehen. Aber Menschen wie Toni und Bleri dürfen die Länder, aus denen diese "internationals" entsandt werden, nicht bereisen, Regisseure wie Leart Rama können nicht an die Premieren ihrer eigenen Filme. Veton Nurkollari, Programmdirektor des Filmfestivals, bezeichnet die fehlende Reisefreiheit als eines der grössten Hindernisse für junge Talente.
Wer sich für die Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien interessiert, findet am DokuFest eine Reihe von Filmen mit Balkan-Bezug. Dokumentationen über die Suche einer architektonischen Identität der mazedonischen Hauptstadt Skopje. Interviews mit Albanern, die zur Zeit des Kommunismus in Straflager gesteckt wurden. Ein Film über den Prozess gegen den bosnisch-serbischen Ex-General Ratko Mladic, bekannt als "Schlächter vom Balkan".
Diesjähriges Highlight war die BBC-Dokumentation "Forgiving the Blood" der britischen Regisseurin Melissa Llewelyn-Davies. 1991 begleitete sie eine kosovarische Familie, die ihren Nachbarn Blutrache schwor, weil diese einen ihrer Söhne getötet hatten. Programmdirektor Nurkollari hofft, dass es in den nächsten Jahren eine Welle von nationalen Produktionen geben wird. "Vor zehn Jahren gab es gar keine Förderungen für heimische Filme", sagt er. Mittlerweile liegt das Förderbudget bei einer Million Euro jährlich.
Von etwaigen finanziellen Engpässen bekommen die ausländischen Besucher nichts mit. In Vergleich zu Westeuropa sind die Preise sehr tief. Ein Cappuccino kostet rund einen Franken, für einen Schwarztee zahlt man vierzig Rappen. Filmtickets gibt es zum Fixpreis von umgerechnet 2 Franken 70. Für ein Abendessen in einem traditionellen Restaurant legt eine Familie nicht mehr als zwanzig Franken aus.
Um Mitternacht, wenn der letzte Film endet, pilgern die jungen, partyaffinen Besucher flussabwärts. Nach fünfzehn Minuten steht man auf einem von steilen Felswänden umgebenen Sportplatz, der zu einem Festivalgelände umgewandelt wurde. Die Menge tanzt zu Techno und House, zu amerikanischem und zu albanischem Rap. Kosovaren aus der Diaspora, hier "Schatzis" genannt, tippen einem auf die Schuler und fragen: "Nga jeni?" - "Woher kommst du?", um dann in fliessendem Schweizerdeutsch weiterzureden, weil sie unter dem Jahr in Luzern oder Zürich leben.
Wer frühmorgens nach Hause geht - müde vom Tanzen, beduselt von Rakia-, hört ihn wieder rufen, den Imam. Diesmal zum Morgengebet. Man überlegt, ob man die Füsse in den Fluss halten soll, und biegt dann doch ab, in das Gassengewirr von Prizren hinein mit seinen tief hängenden Stromkabeln, dem glattpolierten Kopfsteinpflaster und den herumstreunenden Hunden. "Natën e mirë" - "Gute Nacht", rufen sich die Grüppchen, die gerade noch nebeneinander getanzt haben, zu. Dann verteilen sie sich auf die Häuser in der Nachbarschaft, deren Türen rund um die Uhr offen stehen.
Einheimische schlafen während des DokuFest im Wohnzimmer und vermieten ihre Schlafzimmer. Die Gastfreundschaft wird in Prizren hochgehalten. Wenn man Glück hat, kehrt man bei Familien wie Cipa-Laci ein. Agnesa, die Hausfrau, kocht am Morgen tiefschwarzen türkischen Kaffee. Bujar, der Hausherr, verkostet abends seinen selbstgebrannten Birnenschnaps, knackt Haselnüsse und kommentiert den laufenden Fussballmatch. Kommt man spät in der Nacht nach Hause, schleicht man die knarrende Holztreppe nach oben. Ein bisschen wie damals, als man noch bei den Eltern gewohnt hat.
Zum Original