Nach drei Hochwasserwellen hebt Venedig sich wieder aus den Fluten. Die Bürger sind wütend, verängstigt und verzweifelt: Die Lagunenstadt sei dabei, sich ihr eigenes nasses Grab zu schaufeln.
Von Franziska Horn, Venedig
Als der Pegel langsam sinkt, öffnet Mazzi P. die Haustür von Zattere 561 im venezianischen Viertel Dorsoduro. Hier im Eckhaus hat eine Freundin, Valeria Asquini, ihre Wohnung. In der vergangenen Woche hat er die alte Dame gerettet, das schlimmste Hochwasser in der Lagunenstadt seit 1966 vertrieb sie. Jetzt holt er ihr ein paar Sachen aus den beschädigten Zimmern.
Am Katastrophendienstag saß die 88-Jährige bewegungslos auf dem schwimmenden Sofa in ihrer Erdgeschosswohnung, nur eine Kerze brannte auf dem Couchtisch. Das Wasser stieg innerhalb von Minuten rasant an - und mit ihm das Sofa und die alte Dame. "Dieser Sturm war extrem stark, ich hatte fast panische Angst", sagt der schmale Endfünfziger.
Dreimal innerhalb einer Woche hat das Hochwasser die Bürger von Venedig getroffen, das letzte am Sonntag. Sie sind wütend, verängstigt, verzweifelt. Auch Mazzi P., der seinen vollen Namen nicht in den Medien sehen will, ist zornig. "Das Amt für Sturmwarnung hätte diese Flutwelle voraussagen müssen", sagt er. Er fragt sich, warum nicht mehr passiert ist. Es müsse doch eine übergeordnete Stelle mehrerer Länder geben, in der Wissenschaftler ihre Daten gemeinsam auswerten. "Wir brauchen Transparenz!"
Hätte das die Auswirkungen des Sturms verhindern können? Darauf hat Mazzi keine Antwort, resigniert fügt er hinzu: "Wir brauchen einen anderen Tourismus, weg von den Massen." Er schweigt und zitiert dann einen Satz in Anlehnung an "Der Leopard" von Tomasi di Lampedusa: "Alles ändert sich und bleibt doch, wie es ist." Die Wolken reißen auf, die Abendsonne taucht die lang gestreckte Promenade Zattere in ein warmes, goldfarbenes Licht.
Ein Stück weiter an der Kirche I Gesuati deutet Mazzi P. auf ein paar Betonreste auf dem gepflasterten Fundament, die vage ein Viereck andeuten. "Hier stand der Chioschetto von Walter Muti, ein kleiner grüner und sehr beliebter Kiosk. Walter verließ das Häuschen am Dienstag im größten Sturm", sagt Mazzi P. "Nur drei Minuten später kam eine Riesenwelle und nahm den ganzen Verkaufsstand mit. Man hat nichts mehr davon gefunden. Per Crowdfunding versuchte man, 10.000 Euro für seine neue Existenz aufzutreiben - 25.000 Euro kamen zusammen."
An der Punta Dogana haben die Wellen Mörtel aus Wänden gebrochen, ganze Steine aus dem dick gemauerten Brüstungsgeländer zum Kanal. Sie drückten die schweren, eisernen Tore entlang des gesamten Ufers von Zattere auf, brachten Sand, Müll, Chaos. Im Markusdom beschädigte die Flut Bodenmosaike und einigen Marmorsäulen. Vieles würde erst in den kommenden Monaten sichtbar, wenn alles wieder getrocknet sei, sagt Pierpaolo Campostrini vom Markusrat laut Medienberichten. Die schädliche Wirkung des Meersalzes sei "langsam, aber unerbittlich".
"Keine Stadt, sondern eine Idee"
"Das war la tempesta per-fet-ta, der perfekte Sturm", sagt Alessandro Vitturi und betont dabei jede Silbe. Der 57-Jährige steht am Tresen vom Hotel Il Palazzo Experimental an der Uferpromenade Zattere. Draußen trennt der breite Giudecca-Kanal das Viertel Dorsoduro von der Giudecca-Insel, auf der Vitturi in einer der moderneren Wohnungen lebt.
"Der Vollmond, der Scirocco mit an die 100 km/h, der Tidenhub - zusammengenommen war das wie ein Jackpot. Eccezionale! Ich hatte wirklich Angst", sagt er über den Wasserstand von 187 Zentimeter vom vergangenen Dienstag und bestellt noch einen "Vesper", jenen berühmten Cocktail, benannt nach Vesper Lynd, Herzdame von James Bond aus dem in Venedig gedrehten Film "Casino Royale" (2006).
Vesper wurde an einem stürmischen Abend geboren, schreibt Ian Fleming. Später lässt der Autor seine Heldin in den Fluten der historischen Stadt Suizid begehen - ein Sinnbild vielleicht für das heutige Venedig? Die Stadt, die nicht nur durch den Klimawandel, sondern auch durch einen Besucherandrang bedroht wird, der zwar gewollt, aber nicht vernünftig gelenkt wird.
Alessandro Vitturi arbeitet als Portier in einem Forschungs- und Kulturinstitut in Nähe der Accademia-Brücke. An das Jahr 1966 und die Schrecken des damaligen 194-Zentimeter-Hochwassers kann er sich erinnern, obwohl er damals erst vier Jahre alt war. "Venedig ist keine Stadt, sondern eine Idee", sagt er. Eine Traumstadt, die von der Realität eingeholt wird.
Neben Vitturi steht Florian Maier, 28, aus Tübingen. Seit drei Jahren wohnt der deutsche Manager nahe der Rialto-Brücke. "Als das Wasser immer weiter stieg, herrschte trotz des Sturms eine gespenstische Ruhe. Niemand hat mehr gesprochen, niemand war zu sehen. Das hab ich hier noch nie erlebt. Nur ein paar Wassertaxis waren noch unterwegs", sagt er.
Kein Raum zum Ausweichen
Die Venezianer sind erschöpft nach dem Daueralarm, vom Wasserpumpen, vom Wischen, vom Saubermachen - und von der Sorge um die Existenz. "Im Erdgeschoss darf wegen der Gefahr niemand mehr wohnen, da sind nur noch Läden erlaubt", sagt die Besitzerin der winzigen voll gestopften Boutique Nadia in der Calle Lotto. Sie hat tiefe Augenringe, wirkt abgekämpft. Trotzdem leben viele ebenerdig, wo sollen sie auch hin in der dicht gedrängten Stadt? Manche Unterkünfte sind winzig, Keller gibt es nicht. Kein Raum zum Ausweichen also.
Die eigens angereisten Hochwassertouristen dagegen staksten während der Überflutung wie Vögel durch Pfützen, fotografierten sich gegenseitig, als sei alles ein Spaß. Rund um die Accademia-Brücke verkauften Supermärkte und Kioske in den Hochwassertagen Gummistiefel und dünne, knallfarbene Einweg-Überzieher. Rund acht Euro kostete ein Paar dieser kniehohen stivali da pioggia, die man einfach über die Schuhe zieht. Später schwammen die Plastikschläuche im Wasser über Brücken und Plätze.
In einer der funktionellen salopette, Wathosen also, wie Angler und jetzt die Venezianer sie tragen, stand am Sonntag ein Mann auf dem Platz Rio Terà dei Catecumini. Langsam dreht er sich um sich selbst. "Ich fotografiere den Untergang meiner Stadt als 360-Grad-Panorama. Che brutto! Wie grauenhaft!"
So schnell und so hoch sei das Wasser früher nicht gestiegen. "Als Bürger meiner Stadt denke ich, wir werden höchstens noch fünf Jahre überleben.", sagt er. Der Mann ist Lehrer eines hiesigen Gymnasiums und 68 Jahre alt. "Mit dem Ausbaggern der Kanäle für große Dampfer und dem Massentourismus hat sich Venedig seine Grube selbst gegraben. Die tiefen Kanäle bringen erst die Touristen, dann das Hochwasser. Alles nur wegen des Geldes, wegen wirtschaftlicher Interessen."
Er steht im knietiefen Wasser und sagt: "Wir sind gelähmt im finanziellen Gewinnstreben. Europa muss uns retten. Wir sind ja nicht in der Lage dazu! Und das Flutstellwerk Mose hätte schon vor fünf Jahren fertig sein sollen". Dann läuft der Lehrer weiter Richtung Giudecca-Kanal.