Franziska Horn

Autorin. Freie Journalistin, München

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Artikel

Wandern in Südtirol: Nadeln, Riffs und Felsendome

Wandern in Südtirol: Nadeln, Riffs und Felsendome

Selbst verwöhnte Bergwanderer geraten bei einem Hüttentrekking um die dramatisch-wilden Geislerspitzen ins Schwärmen.

"Olm longsom", sagt Gregor, "s'Wetter is schiach, zuerscht moch ma amol a klane Runde am Langkofel, eh mia an de Geisler versackn!". Ein Wettersturz steht bevor, Gregor Demetz von der Klettergilde Catores will erst eine Runde um das Grödner Wahrzeichen drehen, bevor wir das mehrtägige Trekking um die Geisler starten. Also kurven wir unter drohend tiefhängenden Wolken per Auto auf's Sellajoch. Im Zick-Zack steigen wir top gelaunt die Schotter-Serpentinen zur Toni-Demetz-Hütte auf.

Nebel. Keine Seele weit und breit. Als Schneeregen einsetzt, klappt Gregor entspannt den Regenschirm auf. Für einen gstandn Bergführer ist dieser Ausflug so etwas wie Hax'n vertreten. Dann, Stimmen im Nebel: Vor uns erscheinen zwei Catores-Bergführerkollegen. Adam Holzknecht und Hubert Moroder gehören – wie Gregor – zu den besten Alpinisten des Tals. Sie nutzen das Schlechtwetter, um verloren gegangenes Sicherungsgerät eines Gasts zu suchen. "Der Adam und der Hubi haben schon viele Routen eröffnet", erzählt Gregor im Weitergehen.

Schemenhaft zeichnen sich die Wände von Langkofel und Fünffingerspitze ab, als wir die Hütte erreichen. Gregor gibt eine Runde Tee aus seiner Thermoskanne aus – Himbeer mit Zitronensirup, den macht seine Frau Thea selbst. Schmeckt wunderbar. Weiter geht's durch die Scharte. Gregor scheint jede Rampe, jede Wand, jede Flanke und jeden Stein mit Vornamen zu kennen. "Da drüben in der Steilwand mach ich immer ein Fotos von meinen Gästen, das sieht besonders spektakulär aus" – er zeigt in die dichten Schwaden.

Vorbei an meterhohen Felsbrocken und kunstvoll geschichteten Steinmanndln ziehen wir hinunter zur Langkofelhütte. "Wenn die Sonne scheint, sprechen die Berge von selbst. Bei Schlechtwetter muss der Bergführer reden", lacht Gregor und zählt mal eben die Spitzen des Massivs durch: Langkofel, Fünffingerspitzen, Grohmannspitze, Zahnkofel, Plattkofel, etc. Warum diese sich im Halbrund anordnen? Hm. "Ein ehemaliges Korallenriff", erklärt er. Der Beweis folgt auf dem Fuße: Im strömenden Regen drehen wir loses, plattiges Gestein am Wegrand um – finden prompt Abdrucke von Muscheln, Farnen oder Urzeitgarnelen. Bevor wir die Runde schließen, zeigt Gregor berühmte Routen auf den Salamiturm, die Legrima-Route und die Pichl-Führe an der Langkofel-Nordwand, schließlich auf die Holzmadonna im Felsen. Gröden ist das Tal der Holzschnitzer, traditionell.

Als sich die Wolken heben, prüft Gregor den Himmel. Entscheidet dann, das geplante Trekking um die Geisler doch noch zu wagen. Von St. Ulrich nehmen wir die Standseilbahn, wandern auf gleicher Höhe hinüber zur neu erbauten Raschötzhütte. Die erleuchteten Fenster glimmen uns in der Dämmerung entgegen. Hüttenwirt Simon begrüßt uns auf Ladinisch, für fremde Ohren klingt das wie Portugiesisch – oder beinah wie eine Geheimsprache. Simon ist gelernter Holzbildhauer, arbeitete als Mechaniker. Jetzt hat er seinen Traumjob: Hüttenwirt.

Mit Frau Andreina und Familie lebt er das ganze Jahr herroben auf der Hochalm. Im letzten Licht stehen wir auf der Sonnenterrasse. Die Wolken ziehen rein und raus, enthüllen den massigen Schlern, den Rosengarten, vor allem aber die Hauptdarsteller: Das Duo aus Lang- und Plattkofel ist einfach ganz großes Kino! Hier auf der Raschötz will man bleiben, 365 Tage im Jahr auf dieses Massiv starren, es in jedem Licht erleben. Abendessen. Es gibt Gulasch. "Die Knödl zerschneidet man nicht, man zerreißt sie. Und man gibt auch erst den Essig über den Salat, dann das Öl!", erinnert Gregor. Er ist halt ein echter Südtiroler, mit Etikette und Stil – gutes Essen ist hier heilig.

Tag zwei. Nach dem Frühstück mit selbstgemachter Himbeermarmelade reißt der Himmel auf, der Wind vertreibt letzte Wolken. Also machen wir Abstecher zur nahen Heiligkreuzkapelle mit der Kreuzspitze darüber, plus Weitblick ins Eisacktal. Dann folgen wir dem Verlauf des Rückens von Außerraschötz bis zur Flitzerscharte, halten von Westen auf die Geislerspitzen zu, die wie aufgefächerte Klingen eines Taschenmessers in die Höhe ragen. Spektakulär. Zwischendurch kratzt Gregor mit dem Stock eine Skizze in den Boden, zeichnet das Urmeer und den Kontinent Pangaea. "Südtirol lag mal am Äquator", erklärt er und erzählt von den großen Kontinentalverschiebungen.

An der Broglesscharte mit der gleichnamigen Hütte wechseln wir ins Villnösstal. Weit im Osten zeigt sich das Tagesziel, die Schlüterhütte, zu der sich der Adolf-Munkel-Weg hinüber schlängelt.

Wir passieren die Zacken der Geisler im Norden. Lebhaft zeigt Gregor auf Routen, Risse, Verschneidungen, nennt die Jahreszahlen von Erstbegehungen, während wir über den waldigen Pfad traben. "Da könnt i a amol rauf!", meint er, studiert die Felsen wie ein Profiler, tastet sie mit den Augen ab, fotografiert die Abschnitte mit Mega-Zoom. Über 20 Erstbegehungen hat Gregor im Tourenbuch, etwa die "Ciuldi pa no" am Piz Ciavazes oder die ,Mezzaluna' hier an den Fermedaspitzen – er zeigt auf den halbmondförmigen Riss, der sich im gelben, überhängenden Dolomit abzeichnet.

"Ich geh gern beim ersten Schneien los und schau mir die Felsen an. Wo sich der Schnee ablagert bieten sich oft gute Standplätze", verrät er. Am Berg sein, das heißt für Gregor, zu Klettern. Aber auch hier auf den Zustiegen ist seine Begeisterung frei von Routine. Er erklärt Pflanzen und Bäume, Spuren von Tannenhäher, Gams, Reh und Eichhörnchen. Und erzählen, das kann er, ebenso gut wie sein berühmter Vorgänger, der Trenker Luis. "Es ist doch wichtig, dass man die Freud an der Freud behält!", meint er nur.

In stetem Auf und Ab passieren wir die große und kleine Fermeda, den 3025 Meter hohen Sass Rigais, auf den ein gesicherter Klettersteig führt. Nördlich davon liegt die Gschnagenhardt Alm, Reinhold Messners Kinderstube, sozusagen. Hier kehren wir ein, auf ein Gröstl mit Lammflecken, ein Klarer beschließt das Festessen. Dann zieht sich der Weg ein Stück dahin, gewinnt schließlich an Höhe. Wer mit Gregor unterwegs ist, kehrt nicht als Ignorant ins Tal zurück: Schon jetzt können wir sämtliche Scharten der Geisler aus dem Eff-Eff herbeten: Pana-, Wasser-, Mittags- und Roascharte. Jawoll! Gregor ist zufrieden und erklärt kurz vor der Gampenalm noch schnell den Unterschied zwischen Almrausch und Alpenrose.

In stetem Auf und Ab passieren wir die große und kleine Fermeda, den 3025 Meter hohen Sass Rigais, auf den ein gesicherter Klettersteig führt. Nördlich davon liegt die Gschnagenhardt Alm, Reinhold Messners Kinderstube, sozusagen. Hier kehren wir ein, auf ein Gröstl mit Lammflecken, ein Klarer beschließt das Festessen. Dann zieht sich der Weg ein Stück dahin, gewinnt schließlich an Höhe. Wer mit Gregor unterwegs ist, kehrt nicht als Ignorant ins Tal zurück: Schon jetzt können wir sämtliche Scharten der Geisler aus dem Eff-Eff herbeten: Pana-, Wasser-, Mittags- und Roascharte. Jawoll! Gregor ist zufrieden und erklärt kurz vor der Gampenalm noch schnell den Unterschied zwischen Almrausch und Alpenrose.

Auf der gut 110 Jahre alten Schlüterhütte wartet Wirtin Marlene bereits mit dem Essen. Doch wir büxen aus, steigen noch schnell auf die Passhöhe – der Blick zur Fanes, zum Heiligkreuzkofel, zum Peitlerkofel mit dem Günter-Messner-Steig im Abendlicht ist einfach eine Schau. Beim Essen erzählt Gregor von seiner Manaslu-Expedition 1991 mit Kammerlander und Mutschlechner. Doch nicht allzu lange, wir müssen früh raus.

Auf dem Dolomitenhöhenweg wandern wir etwas bergab zum Kreuzjoch. Schon von weitem zeigt sich der Schotterhang der Roa Scharte. Da wollen wir durch. Auf Serpentinen steigen wir durch Geröll und vorbei an bizarren Felsen. "Do an dem Weg hot mi amol a Wanderer gfragt, wo denn da herroben die Pizzeria sei? I hon nur gsagt: Du meinst nit zufällig die Pizascharte? Ja, die gibt's do schun!". Gregor lacht noch immer, wenn er daran denkt. Auf der anderen Seite der Scharte steigen wir südwärts hinab ins Wassertal, wo wir auf den Weg zur Regensburger Hütte stoßen, letzte Station des Trekkings.

Von der Hütte führen viele Wege ins Tal. Ein besonders schöner ist der Schlenker zur Malga Pieralongia am gleichnamigen Felsen, der wie ein Haifischzahn aus einer Almwiese ragt. "Manchmal sitzen wir auf halber Höhe mitten im Felsen und spielen Karten", erzählt Gregor ungerührt, während die vier Esel der nahen Weide den Zaun kommen. Dieser Ort ist einmalig, wir bestellen eine Marend mit Speck, Käse und Weißburgunder. Eine veritable Törggelen-Session. "Vives!", sagt Gregor, das heißt Prost auf Ladinisch. Beschwingt peilen wir das Almhaus Col Raiser und die Gamsbluthütte an, von hier führt ein Forstweg zum Weiler St. Jakob und ins Tal nach St. Ulrich. Immer wieder drehen wir uns auf den letzten Metern um. Die sanft gewellten Almen mit den steilen Nadeln – den Odles, so der ladinische Name – darüber, dieses Bild gehört zu den schönsten, das die Alpen zu bieten haben.