BJV-Diskussionsrunde mit Journalist und Buchautor Baha Güngör
München, 02.07.2018Wie geht es weiter nach den Wahlen in der Türkei? Der BJV lud Baha Güngör, Journalist und Buchautor, in den Münchner Presseclub ein. Thomas Morawski, Fernsehjournalist und früherer Leiter des ARD-Studios Wien, moderierte die Gesprächsrunde.
Baha Güngör
Seit über 40 Jahren berichtet Baha
Güngör als Türkei-Berichterstatter deutscher Medien über sein
Heimatland. „Berufstürke“ nennt er sich augenzwinkernd. Im September
2017 erschien sein Buch „Atatürks wütende Enkel – Die Türkei zwischen Demokratie und Demagogie“. Güngör nahm bereits an zwei BJV-Veranstaltungen zum Tag der Pressefreiheit teil: Europas Journalisten unter Druck (2018) und „Unliebsame Journalisten verleumdet und ausgeschaltet“ (2016). Güngör twittert unter: @bahagungor.
Nach den Wahlen vom 24. Juni erfährt das Buch neue Brisanz. Im
Schlusssatz zeigte Güngör beinahe Hellseherqualitäten: „Wann wird die
Demagogie Erdogans die Demokratie, die für ihn immer nur ein Mittel, nie
ein Ziel war, endgültig ausgeschaltet haben? Dann – und erst dann – hat
die Türkei ganz verloren“.
„Racheakt“ der „Doppelpasstürken“
Der
politische Wahlsieg berge Gefahren, zumal Erdogan rund die Hälfte der
Bevölkerung gegen sich habe, erklärte Güngör und erläuterte, warum
„Erdogan ist, wo er ist“. Erstaunlich: Überproportional viele
„Doppelpasstürken“ stimmten für den umstrittenen Politiker, gleichzeitig
aber für die SPD oder linke Parteien. „Ist das ein Problem?“, fragte
Morawski.
„Nein, das ist ein Ergebnis – von 60 Jahren
verfehlter Integrationspolitik“, antwortete Güngör. Die
Pro-Erdogan-Stimmwahl bezeichnete er als „Racheakt, denn Erdogan gibt
ihnen, was sie wollen: eine Identität und das Gefühl, nicht nur eine
Randgruppe zu sein“.
Mit klaren Worten verwies Güngör auf die
innere Logik dieser Wahlen, unter Aspekten wie Syrienkrieg und
Flüchtlingsdeal, EU-Beitritt und fortbestehender Putschgefahr. Die
breite Zivilgesellschaft sei in diesem Überwachungsstaat geschwächt.
Weggesperrte Journalisten
Und
der Journalismus? „Seit Jahrzehnten werden Journalisten in der Türkei
ermordet, gefoltert, verjagt – oder verhaftet wie Can Dündar, Denis
Yücel und Mesale Tolu. Rund 35 bis 40 Journalisten sind laut Reporter ohne Grenzen
in Haft, weitere 150 sind laut Info des türkischen Journalistenverbands
ohne Anklageschrift in Gefängnissen“, berichtete Güngör. „Doch
Journalisten werden niemals gebändigt werden und haben heute ganz andere
technische Möglichkeiten“, sagte Güngör.
Während seiner
letzten beiden Türkei-Besuche habe auch Güngor Angst gehabt, wurde
kontrolliert, bisher nie verhaftet. Der 68-Jährige weiß: „Je mehr Angst
sie haben, desto mehr Freiheiten nehmen sie sich heraus“.
Wie
können Journalisten mit der wachsenden Autokratie in der Türkei umgehen?
„Kritisch bleiben, dabei aber nie unter die Gürtellinie gehen. Nie
beleidigen. Das ist eines Journalisten unwürdig“, riet Güngör. Morawski
beendete den Abend mit einem Appell: „Wir haben zwar nicht die türkische
Regierung, aber das Volk zu lange allein gelassen. Das müssen wir
ändern!“
Franziska Horn
Türkei-Berichterstattung unabhängiger bzw. oppositioneller Medien
- Özgürüz: Exil-Medium des ehemaligen Cumhuriyet-Chefredakteurs Can Dündar aus Berlin, auf Deutsch und Türkisch
- taz.gazete: Projekt der Taz zur Unterstützung verfolgter türkischer Journalisten, auf Türkisch und Deutsch:
- „Türkei unzensiert“:Plattform für unabhängige Informationen über die Lage in der Türkei), von WDR COSMO, auf Deutsch und Türkisch.
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