Franziska Horn sprach mit den Extrembergsteigern Simone Moro, Denis Urubko und Cory Richards über den Berg als Schule, die Rolle von Sponsoren und die Zukunft des Alpinimus.
Franziska Horn » Anfang Februar 2011 habt ihr zu dritt den Gasherbrum II mit 8034 Metern Höhe bestiegen, eine äußerst extreme Aktion. Wie viele Schichten habt ihr getragen, bei bis zu –47° Celsius?
Simone Moro » Honestly, es waren nur drei Schichten: Funktionswäsche, ein Fleece-Rolli und ein Daunenanzug. Man darf nicht zu viel anhaben!
Cory Richards » Ja, denn so ein Daunenanzug fühlt sich an, als ob du in einem Schlafsack mit Ärmeln und Beinen herumläufst. Bei geschlossenem Zipper speichert er ungeheuer viel Wärme.
Denis Urubko » Und wenn du dann vom Gipfel bei –50°C absteigst, fühlen sich –30° Celsius in tieferen Lagen plötzlich richtig frühlingshaft an.
FH » Provokant gefragt: Sind Winterbesteigungen aktuell der letzte Schrei, oder wie sieht sie aus, die Zukunft des Alpinismus?
SM » Die Zukunft liegt in der Fantasie – und die ist grenzenlos! Man kann das mit der Kunst vergleichen, jede Epoche hat ihre Stilrichtung und ihre Werkzeuge. Und jede Zeit bringt neue Ideen hervor! Die aktuellen Stichwörter des Alpinismus lauten Erforschen, Entdecken und Abenteuer. Und das ist weit weg von Performing, Rekorden, Wettbewerben. Die Menschen sind zum Mond geflogen, jetzt suchen sie Wege zum Mars. Wir Alpinisten erforschen das Potenzial der Erde, es gibt mehr als hundert unbestiegene Siebentausender. Und viele Achttausender warten auf eine Premiere im Winter.
CR » Wir machen Winterbesteigungen nicht, um dann sagen zu können: Wir waren die Ersten. Wir tun das, weil man nur im Winter den Berg ganz pur erleben kann, eben so, wie
er ist. Ohne Menschen, ohne Spuren, ohne Fixseile oder lokale Helfer. Erster zu sein ist ein netter Pluspunkt. Aber es geht nicht ums Berühmtwerden, es geht ums Abenteuer.
SM » Wenn du rausfinden willst, wie der Himalaya vor 200 oder 2000 Jahren ausgesehen hat, musst du im Winter gehen. Jede menschliche Spur ist dann ausgelöscht, es gibt nur eiskalte Stille. Das ist ein Sprung in echte Wildnis. Mit einer Gipfelchance von höchstens 10 bis 15 Prozent. Wer schnelle Ergebnisse sucht, darf nicht im Winter losziehen. Dafür muss er sich dann im Frühjahr eine Lücke im langen Trek der Gipfelkarawane suchen.
CR » Ja, als ich einmal mit einem Freund in einer Wand des Lhotse kletterte, zählten wir 135 Leute im Anstieg auf den Everest. Die meisten davon sehen den Berg als Trophäe.
FH » Den Gasherbrum habt ihr mit Unterstützung des Sponsors „The North Face“ begangen. Zu wieviel Prozent geht ihr bei euren Projekten für euch selbst – und zu wieviel Prozent, um Sponsoren oder das Medieninteresse zu halten?
SM » Honestly, in der Vertragsvereinbarung ist nur ein Minimum an Aktionen festgehalten. Man zwingt uns zu nichts. Ein Beispiel: Du sitzt hier mit uns, machst ein Interview und
hörst die Geschichte. Aber auch wenn wir‘s nicht geschafft hätten, würdest du wissen wollen, was wir zu erzählen haben. Die Sponsoren suchen keine vordergründigen Gewinner – und wir sind keine Pferde, auf die man setzt! Wir haben in jedem Fall was zu erzählen und Erfahrungen zu teilen, wenn wir zurückkommen. Darum geht es. Ich kenne Hunderte, die mehr klettern als ich. Aber sie haben keine Sponsoren. Weil sie den Link nicht verstehen. Wenn du für dich selbst gehen willst, ist das okay. Wenn du es machst und dich mitteilst – hast du Sponsoren! Dafür riskiert man nicht ein Prozent mehr! Sponsoren brauchen eine Geschichte, in der es um Menschliches geht, nicht um Helden, so verständlich der Wunsch danach auch ist. Genau deswegen hat Cory mit seinem Film „Cold“ auch so viele Preise gewonnen: Weil er im Grunde eine klassische Geschichte über Menschen erzählt hat, keine Siegerstory. Aber die Leute glauben immer weiter, dass wir das Risiko nur deswegen auf uns nehmen, weil die Sponsoren es wollen. Aber du hast eben auch nur das eine Leben. Das ist mehr wert als alle Sponsorengelder. Es hängt also davon ab, ob du eine charismatische Persönlichkeit bist. Eine Todesnachricht ist keine gute Werbebotschaft. Also geht es für jeden einzelnen Extrembergsteiger darum, die Grenzen seines Tuns selbst zu bestimmen.
CR » Wenn du stirbst, ist DAS definitiv die Grenze deines Tuns … (lacht)
SM » Jene Kollegen, die für Sponsoren ein Extra-Risiko eingehen, werden nicht sehr alt werden …
CR » Ich denke auch, dass du als Extrembergsteiger zu 100 Prozent für dich selbst gehst. Du gehst, weil du es liebst. Weil du es willst. Und wenn du smart bist, erzählst du anschließend die Story, egal ob Erfolg oder Niederlage, egal ob es einfach war oder ein Kampf. Eine Geschichte erzählen, Erfahrungen weitergeben, darum geht es, dadurch wirst du zu einer „Marke“. Wer die extremen Höhen liebt, wird ab und zu auch oben stehen. Häufiger allerdings gelingt das nicht. Alpinismus lehrt viel mehr, mit Würde zu scheitern, als ganz oben zu stehen.
FH » Nach wie vor scheint es ein Tabu, über den Tod oder Unfälle überhaupt zu sprechen.
SM » Der Tod ist ein Teil des Lebens. Aber du gehst nicht auf den Berg, um zu sterben.
DU » Das weiß jeder.
SM » Du weißt, dass es eine Möglichkeit ist.
CR » Je näher du dem Abgrund kommst, das ist das Paradoxon, desto lebendiger fühlst du dich. Wenn du über Klippen kletterst, schlägt dein Herz plötzlich schneller. Das heißt jedoch nicht, dass du abspringen und sterben willst. Aber je mehr dein Körper reagiert, desto mehr spürst du, im philosophischen wie im physischen Sinne.
DU » Du spürst das Leben viel intensiver.
FH » Aber warum braucht es so extreme Erfahrungen, um sich besser, lebendiger zu fühlen?
DU » Wir machen das alles bloß, um die schönen Frauen abzubekommen (lacht). Nein, das war jetzt ein Witz …
FH » Oho – es hat sich also nichts geändert im Lauf der letzten Million von Jahren.
DU » Es ist schon wahr, wir nehmen ziemlich viele Strapazen auf uns. Es ist irre kalt und oft sehr schwierig. Aber es gibt keine Gründe oder Argumente dafür. Wie in der Kunst auch. Du machst Kunst, weil du sie liebst, nicht weil du sie verkaufen oder damit reich werden willst. Bergsteigen ist eine Möglichkeit, sich selbst zu analysieren.
SM » Die beste Antwort ist vielleicht: Warum liebst du eine andere Person oder ein Hobby? Das tust du nicht aus einem bestimmten rationalen Grund. Du liebst sie einfach. Warum
fährt man vier Stunden mit dem Auto, nur um seinen Freund/Freundin für zwei Stunden zu sehen? Man macht einfach verrückte Dinge aus Leidenschaft. Wir können erklären, was die Schönheit des Bergsteigens ausmacht, aber nicht die Gefühle. Und: Auch zu lieben kann manchmal gefährlich sein, wenn es nicht die richtige Person ist …
CR » Oder die richtige Zeit.
SM » Das Gefühl der Liebe kann man nicht erklären. Aber es macht dich glücklich. Und Bergsteigen macht dich ziemlich verliebt ins Leben, du möchtest das tolle Gefühl immer wieder erleben. Ich möchte nicht 85 Jahre alt werden und mir vorwerfen, was ich alles gelassen oder versäumt habe … Ich habe Träume. Und realisiere diese Träume. Das heißt leben!
FH » Man könnte argumentieren: Ohne Liebe kann man nicht leben, ohne Berge eventuell schon …
CR » (entsetzt): Wirklich? Man kann überleben ohne Berge, aber ohne sie leben könnte ich nicht. Ich wurde in einem Zelt oben in den Bergen gezeugt, ich bin so viel dort oben
am Berg gewesen …
FH » Lionel Terray hat einmal formuliert: „Bergsteigen ist die Eroberung des Nutzlosen“. Aber es ist keinesfalls „vergebens“: Was habt ihr gelernt am Berg, das ihr mit in den Alltag nehmen könnt?
SM » Ich bin in den Bergen aufgewachsen. Ich habe dort gelernt, was ich kann und was ich nicht kann. In meinem Fall ist Bergsteigen kein Eskapismus aus der Realität. Aber wenn ich vom Berg zurückkehre, bin ich eine bessere „normale“ Person. Ich habe am Berg gelernt, mich selbst einzuschätzen. Ich denke, dass ich auf der Welt bin, um bergzusteigen. Was ich da oben lerne? Die einfachen Dinge zu schätzen: den Geschmack und den Wert von frischem Wasser. Seit meiner ersten Expedition lasse ich keine Wasserflasche mehr halbleer auf dem Hoteltisch zurück. Wenn du monatelang mühsam Eis schmelzen musst, um trinken zu können, verändert das deine Sichtweise. Du lernst, dass viele Dinge alles andere als selbstverständlich sind: ein wärmendes Feuer, Freunde, deine Familie. Das ist eine große Lektion. Und nur einer von hundert Gründen, die es wert sind, in die Berge zu gehen.
CR » Was ich zuletzt gelernt – oder besser mitgenommen – habe, ist wahre Freundschaft. Vor der Tour zum Gasherbrum sind wir drei nie zusammen geklettert. Zu Beginn war es nicht leicht, wir fragten uns fast: Wie soll das funktionieren? Doch dann kommst du zurück, schaust auf die Anfänge, und denkst, das Leben ist großartig, du kommst mit zwei
Freunden zurück, die so wichtig wie Familie sind – sie sind jetzt Familie! Ich habe zwei Brüder dazu gewonnen, die ich jederzeit anrufen kann, hey, ich hab da ein Problem …
DU » Wenn Cory mich aus den Vereinigten Staaten anrufen würde und sagen: „Ich habe ein Problem, kannst du mir helfen?“, dann würde ich sofort hin fliegen. Ich kann nicht erklären warum, aber ich würde es tun.
SM » Dazu muss man sagen: Für Denis war das erste Treffen mit Cory nicht gerade Liebe auf den ersten Blick. Denis hat erst einmal beobachtet. Aber nach all den Prüfungen wie
Lawinenverschüttung und Spaltensturz hat jeder von uns zwei Brüder mehr. Bei dieser Art von Touren ist es wesentlich einfacher, einen Freund zu verlieren, als einen zu finden. Weil du schlichtweg nackt dastehst, ohne künstliche Attitüden, ohne antrainierte Höflichkeiten, du zeigst, wer du wirklich bist. Ich habe am Berg so viele Leute streiten und Freundschaften enden sehen.
CR » Ich hab diese Erfahrung auch schon gemacht. Auf die Tour zum Nuptse startete ich mit zwei Freunden. Mit einem davon spreche ich heut nicht mehr. Nicht, weil ich ihn nicht mehr mag. Sondern weil es einfach nicht funktioniert hat. So etwas passiert schnell und ist schmerzhaft … Man vergisst das einfach nicht mehr, es gibt kein zurück.
FH » Kleiner Themenwechsel. Macht ihr eigentlich Mentaltraining? Ich denke, letztendlich ist es vor allem mentale Stärke, auf die es in extremen Situationen ankommt.
CR » Nein, nein.
SM » Mein einziges „Mentaltraining“ ist Running. Das brauche ich definitiv ab und zu. Ganz allein loslaufen, ohne Mobile, ohne Expeditionspläne im Kopf, ohne Interviewtermine.
Und je länger ich laufe, desto besser geht’s mir. Wir dürfen nicht automatisch wie die Roboter durch die Welt rennen, sondern müssen uns immer wieder mal fokussieren, hinterfragen.
FH » Und direkt am Berg?
DU » Ich geh da vielleicht nicht so psychologisch ran wie Simone, aber ich denke, ich habe am Berg eine Menge gelernt. Geduld, zum Beispiel, und mich oder andere nicht unter Druck zu setzen. Ich mag keine Konfrontationen, darum übe ich, mich zu kontrollieren und zu beruhigen, bevor es zum Konflikt kommt.
SM » In der Tat, wer Achttausender im Winter besteigt, braucht eine Riesengeduld. Man muss warten können. Auf ein günstiges Wetterfenster, auf den richtigen Moment.
FH » Letzte Frage: Wie trefft ihr Entscheidungen am Berg, eher rational oder eher intuitiv?
SM » Dazwischen – oder beides. Dein Herz sagt dir zum Beispiel, dass du weiter willst zum Gipfel, obwohl du müde und es schon spät ist, doch er scheint zum Greifen nah. Dann
musst du den Kopf einschalten. Nur so schaffst du es, auch 100 Meter unterhalb des Gipfels umzudrehen.
FH » Euch allen drei herzlichen Dank für das Gespräch.
Simone Moro
geboren am 27. 10. 1967 in Bergamo, Sportwissenschaftler, Bergführer, Extrembergsteiger, Fallschirmspringer, Skydiver und seit 2010 Hubschrauberpilot für die Bergrettung Nepal. In den letzten 19 Jahren unternahm er rund 45 Expeditionen in Himalaya, Karakorum, Tien Shan, Pamir, Anden, Patagonien und Antarktis, zehn davon im Winter. Drei Winterbesteigungen gelingen: Shisha Pangma (2005), Makalu (2009), Gasherbrum II (2011). 2012 brach er eine Winterbesteigung mit Urubko am Nanga Parbat sowie eine Solobegehung von Everest und Lhotse ab. Moro ist verheiratet und hat zwei Kinder.
www.simonemoro.com
Denis Urubko
geboren am 29. 7.1973 in Newinnomyssk, Russland. Lebt in Almaty, Kasachstan. Bestieg 1999 im Rahmen des Snow-Leopard-Projects die fünf Siebentausender der CIS-Staaten in 42 Tagen. Hat alle vierzehn Achttausender bestiegen. Spezialität: Neue Routen in extremen Höhen: Südseite Broad Peak (2005), Nord-Ost-Route Manaslu (2006), Süd-Ost-Route Cho-Oyu (2009), 2010 Alleinbegehung einer neuen Variante von der Everest-Südschulter
zum Lhotse. Besteigt im Winter Makalu (2005) und Gasherbrum II (2011), zusammen mit Moro. Urubko ist verheiratet und hat zwei Kinder.
Cory Richards
geboren am 18. 5. 1981 in Salt Lake City, Utah/ USA. Lebt in Boulder, Idaho. Als Abenteuer- und Expeditions-Fotograf hält Cory fest, was der Kampf am Berg mit dem Menschen macht. Mit Ines Papert eröffnet er 2009 eine neue Linie am Kwangde Shar. Im Februar 2011 bestiegen Richards, Moro und Urubko den Gasherbrum II. Seine Filmdoku „Cold“ erhält zahlreiche Preise. Bisher acht Expeditionen im Himalaya (Makalu, Ama Dablam, Tawoche,
Lhotse und Nuptse), vier Expeditionen in Südamerika, Peru. Im Mai 2012 versucht er, über den Westgrat zum Everest aufzusteigen, erkrankt jedoch und muss evakuiert werden. Richards ist verheiratet. www.crichardsphoto.com
Erschienen 2013 im Alpenvereinsjahrbuch "BERG 2013", Tyrolia Verlag Innsbruck
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Franziska Horn » Anfang Februar 2011 habt ihr zu dritt den Gasherbrum II mit 8034 Metern Höhe bestiegen, eine äußerst extreme Aktion. Wie viele Schichten habt ihr getragen, bei bis zu –47° Celsius?
Simone Moro » Honestly, es waren nur drei Schichten: Funktionswäsche, ein Fleece-Rolli und ein Daunenanzug. Man darf nicht zu viel anhaben!
Cory Richards » Ja, denn so ein Daunenanzug fühlt sich an, als ob du in einem Schlafsack mit Ärmeln und Beinen herumläufst. Bei geschlossenem Zipper speichert er ungeheuer viel Wärme.
Denis Urubko » Und wenn du dann vom Gipfel bei –50°C absteigst, fühlen sich –30° Celsius in tieferen Lagen plötzlich richtig frühlingshaft an.
FH » Provokant gefragt: Sind Winterbesteigungen aktuell der letzte Schrei, oder wie sieht sie aus, die Zukunft des Alpinismus?
SM » Die Zukunft liegt in der Fantasie – und die ist grenzenlos! Man kann das mit der Kunst vergleichen, jede Epoche hat ihre Stilrichtung und ihre Werkzeuge. Und jede Zeit bringt neue Ideen hervor! Die aktuellen Stichwörter des Alpinismus lauten Erforschen, Entdecken und Abenteuer. Und das ist weit weg von Performing, Rekorden, Wettbewerben. Die Menschen sind zum Mond geflogen, jetzt suchen sie Wege zum Mars. Wir Alpinisten erforschen das Potenzial der Erde, es gibt mehr als hundert unbestiegene Siebentausender. Und viele Achttausender warten auf eine Premiere im Winter.
CR » Wir machen Winterbesteigungen nicht, um dann sagen zu können: Wir waren die Ersten. Wir tun das, weil man nur im Winter den Berg ganz pur erleben kann, eben so, wie
er ist. Ohne Menschen, ohne Spuren, ohne Fixseile oder lokale Helfer. Erster zu sein ist ein netter Pluspunkt. Aber es geht nicht ums Berühmtwerden, es geht ums Abenteuer.
SM » Wenn du rausfinden willst, wie der Himalaya vor 200 oder 2000 Jahren ausgesehen hat, musst du im Winter gehen. Jede menschliche Spur ist dann ausgelöscht, es gibt nur eiskalte Stille. Das ist ein Sprung in echte Wildnis. Mit einer Gipfelchance von höchstens 10 bis 15 Prozent. Wer schnelle Ergebnisse sucht, darf nicht im Winter losziehen. Dafür muss er sich dann im Frühjahr eine Lücke im langen Trek der Gipfelkarawane suchen.
CR » Ja, als ich einmal mit einem Freund in einer Wand des Lhotse kletterte, zählten wir 135 Leute im Anstieg auf den Everest. Die meisten davon sehen den Berg als Trophäe.
FH » Den Gasherbrum habt ihr mit Unterstützung des Sponsors „The North Face“ begangen. Zu wieviel Prozent geht ihr bei euren Projekten für euch selbst – und zu wieviel Prozent, um Sponsoren oder das Medieninteresse zu halten?
SM » Honestly, in der Vertragsvereinbarung ist nur ein Minimum an Aktionen festgehalten. Man zwingt uns zu nichts. Ein Beispiel: Du sitzt hier mit uns, machst ein Interview und
hörst die Geschichte. Aber auch wenn wir‘s nicht geschafft hätten, würdest du wissen wollen, was wir zu erzählen haben. Die Sponsoren suchen keine vordergründigen Gewinner – und wir sind keine Pferde, auf die man setzt! Wir haben in jedem Fall was zu erzählen und Erfahrungen zu teilen, wenn wir zurückkommen. Darum geht es. Ich kenne Hunderte, die mehr klettern als ich. Aber sie haben keine Sponsoren. Weil sie den Link nicht verstehen. Wenn du für dich selbst gehen willst, ist das okay. Wenn du es machst und dich mitteilst – hast du Sponsoren! Dafür riskiert man nicht ein Prozent mehr! Sponsoren brauchen eine Geschichte, in der es um Menschliches geht, nicht um Helden, so verständlich der Wunsch danach auch ist. Genau deswegen hat Cory mit seinem Film „Cold“ auch so viele Preise gewonnen: Weil er im Grunde eine klassische Geschichte über Menschen erzählt hat, keine Siegerstory. Aber die Leute glauben immer weiter, dass wir das Risiko nur deswegen auf uns nehmen, weil die Sponsoren es wollen. Aber du hast eben auch nur das eine Leben. Das ist mehr wert als alle Sponsorengelder. Es hängt also davon ab, ob du eine charismatische Persönlichkeit bist. Eine Todesnachricht ist keine gute Werbebotschaft. Also geht es für jeden einzelnen Extrembergsteiger darum, die Grenzen seines Tuns selbst zu bestimmen.
CR » Wenn du stirbst, ist DAS definitiv die Grenze deines Tuns … (lacht)
SM » Jene Kollegen, die für Sponsoren ein Extra-Risiko eingehen, werden nicht sehr alt werden …
CR » Ich denke auch, dass du als Extrembergsteiger zu 100 Prozent für dich selbst gehst. Du gehst, weil du es liebst. Weil du es willst. Und wenn du smart bist, erzählst du anschließend die Story, egal ob Erfolg oder Niederlage, egal ob es einfach war oder ein Kampf. Eine Geschichte erzählen, Erfahrungen weitergeben, darum geht es, dadurch wirst du zu einer „Marke“. Wer die extremen Höhen liebt, wird ab und zu auch oben stehen. Häufiger allerdings gelingt das nicht. Alpinismus lehrt viel mehr, mit Würde zu scheitern, als ganz oben zu stehen.
FH » Nach wie vor scheint es ein Tabu, über den Tod oder Unfälle überhaupt zu sprechen.
SM » Der Tod ist ein Teil des Lebens. Aber du gehst nicht auf den Berg, um zu sterben.
DU » Das weiß jeder.
SM » Du weißt, dass es eine Möglichkeit ist.
CR » Je näher du dem Abgrund kommst, das ist das Paradoxon, desto lebendiger fühlst du dich. Wenn du über Klippen kletterst, schlägt dein Herz plötzlich schneller. Das heißt jedoch nicht, dass du abspringen und sterben willst. Aber je mehr dein Körper reagiert, desto mehr spürst du, im philosophischen wie im physischen Sinne.
DU » Du spürst das Leben viel intensiver.
FH » Aber warum braucht es so extreme Erfahrungen, um sich besser, lebendiger zu fühlen?
DU » Wir machen das alles bloß, um die schönen Frauen abzubekommen (lacht). Nein, das war jetzt ein Witz …
FH » Oho – es hat sich also nichts geändert im Lauf der letzten Million von Jahren.
DU » Es ist schon wahr, wir nehmen ziemlich viele Strapazen auf uns. Es ist irre kalt und oft sehr schwierig. Aber es gibt keine Gründe oder Argumente dafür. Wie in der Kunst auch. Du machst Kunst, weil du sie liebst, nicht weil du sie verkaufen oder damit reich werden willst. Bergsteigen ist eine Möglichkeit, sich selbst zu analysieren.
SM » Die beste Antwort ist vielleicht: Warum liebst du eine andere Person oder ein Hobby? Das tust du nicht aus einem bestimmten rationalen Grund. Du liebst sie einfach. Warum
fährt man vier Stunden mit dem Auto, nur um seinen Freund/Freundin für zwei Stunden zu sehen? Man macht einfach verrückte Dinge aus Leidenschaft. Wir können erklären, was die Schönheit des Bergsteigens ausmacht, aber nicht die Gefühle. Und: Auch zu lieben kann manchmal gefährlich sein, wenn es nicht die richtige Person ist …
CR » Oder die richtige Zeit.
SM » Das Gefühl der Liebe kann man nicht erklären. Aber es macht dich glücklich. Und Bergsteigen macht dich ziemlich verliebt ins Leben, du möchtest das tolle Gefühl immer wieder erleben. Ich möchte nicht 85 Jahre alt werden und mir vorwerfen, was ich alles gelassen oder versäumt habe … Ich habe Träume. Und realisiere diese Träume. Das heißt leben!
FH » Man könnte argumentieren: Ohne Liebe kann man nicht leben, ohne Berge eventuell schon …
CR » (entsetzt): Wirklich? Man kann überleben ohne Berge, aber ohne sie leben könnte ich nicht. Ich wurde in einem Zelt oben in den Bergen gezeugt, ich bin so viel dort oben
am Berg gewesen …
FH » Lionel Terray hat einmal formuliert: „Bergsteigen ist die Eroberung des Nutzlosen“. Aber es ist keinesfalls „vergebens“: Was habt ihr gelernt am Berg, das ihr mit in den Alltag nehmen könnt?
SM » Ich bin in den Bergen aufgewachsen. Ich habe dort gelernt, was ich kann und was ich nicht kann. In meinem Fall ist Bergsteigen kein Eskapismus aus der Realität. Aber wenn ich vom Berg zurückkehre, bin ich eine bessere „normale“ Person. Ich habe am Berg gelernt, mich selbst einzuschätzen. Ich denke, dass ich auf der Welt bin, um bergzusteigen. Was ich da oben lerne? Die einfachen Dinge zu schätzen: den Geschmack und den Wert von frischem Wasser. Seit meiner ersten Expedition lasse ich keine Wasserflasche mehr halbleer auf dem Hoteltisch zurück. Wenn du monatelang mühsam Eis schmelzen musst, um trinken zu können, verändert das deine Sichtweise. Du lernst, dass viele Dinge alles andere als selbstverständlich sind: ein wärmendes Feuer, Freunde, deine Familie. Das ist eine große Lektion. Und nur einer von hundert Gründen, die es wert sind, in die Berge zu gehen.
CR » Was ich zuletzt gelernt – oder besser mitgenommen – habe, ist wahre Freundschaft. Vor der Tour zum Gasherbrum sind wir drei nie zusammen geklettert. Zu Beginn war es nicht leicht, wir fragten uns fast: Wie soll das funktionieren? Doch dann kommst du zurück, schaust auf die Anfänge, und denkst, das Leben ist großartig, du kommst mit zwei
Freunden zurück, die so wichtig wie Familie sind – sie sind jetzt Familie! Ich habe zwei Brüder dazu gewonnen, die ich jederzeit anrufen kann, hey, ich hab da ein Problem …
DU » Wenn Cory mich aus den Vereinigten Staaten anrufen würde und sagen: „Ich habe ein Problem, kannst du mir helfen?“, dann würde ich sofort hin fliegen. Ich kann nicht erklären warum, aber ich würde es tun.
SM » Dazu muss man sagen: Für Denis war das erste Treffen mit Cory nicht gerade Liebe auf den ersten Blick. Denis hat erst einmal beobachtet. Aber nach all den Prüfungen wie
Lawinenverschüttung und Spaltensturz hat jeder von uns zwei Brüder mehr. Bei dieser Art von Touren ist es wesentlich einfacher, einen Freund zu verlieren, als einen zu finden. Weil du schlichtweg nackt dastehst, ohne künstliche Attitüden, ohne antrainierte Höflichkeiten, du zeigst, wer du wirklich bist. Ich habe am Berg so viele Leute streiten und Freundschaften enden sehen.
CR » Ich hab diese Erfahrung auch schon gemacht. Auf die Tour zum Nuptse startete ich mit zwei Freunden. Mit einem davon spreche ich heut nicht mehr. Nicht, weil ich ihn nicht mehr mag. Sondern weil es einfach nicht funktioniert hat. So etwas passiert schnell und ist schmerzhaft … Man vergisst das einfach nicht mehr, es gibt kein zurück.
FH » Kleiner Themenwechsel. Macht ihr eigentlich Mentaltraining? Ich denke, letztendlich ist es vor allem mentale Stärke, auf die es in extremen Situationen ankommt.
CR » Nein, nein.
SM » Mein einziges „Mentaltraining“ ist Running. Das brauche ich definitiv ab und zu. Ganz allein loslaufen, ohne Mobile, ohne Expeditionspläne im Kopf, ohne Interviewtermine.
Und je länger ich laufe, desto besser geht’s mir. Wir dürfen nicht automatisch wie die Roboter durch die Welt rennen, sondern müssen uns immer wieder mal fokussieren, hinterfragen.
FH » Und direkt am Berg?
DU » Ich geh da vielleicht nicht so psychologisch ran wie Simone, aber ich denke, ich habe am Berg eine Menge gelernt. Geduld, zum Beispiel, und mich oder andere nicht unter Druck zu setzen. Ich mag keine Konfrontationen, darum übe ich, mich zu kontrollieren und zu beruhigen, bevor es zum Konflikt kommt.
SM » In der Tat, wer Achttausender im Winter besteigt, braucht eine Riesengeduld. Man muss warten können. Auf ein günstiges Wetterfenster, auf den richtigen Moment.
FH » Letzte Frage: Wie trefft ihr Entscheidungen am Berg, eher rational oder eher intuitiv?
SM » Dazwischen – oder beides. Dein Herz sagt dir zum Beispiel, dass du weiter willst zum Gipfel, obwohl du müde und es schon spät ist, doch er scheint zum Greifen nah. Dann
musst du den Kopf einschalten. Nur so schaffst du es, auch 100 Meter unterhalb des Gipfels umzudrehen.
FH » Euch allen drei herzlichen Dank für das Gespräch.
Simone Moro
geboren am 27. 10. 1967 in Bergamo, Sportwissenschaftler, Bergführer, Extrembergsteiger, Fallschirmspringer, Skydiver und seit 2010 Hubschrauberpilot für die Bergrettung Nepal. In den letzten 19 Jahren unternahm er rund 45 Expeditionen in Himalaya, Karakorum, Tien Shan, Pamir, Anden, Patagonien und Antarktis, zehn davon im Winter. Drei Winterbesteigungen gelingen: Shisha Pangma (2005), Makalu (2009), Gasherbrum II (2011). 2012 brach er eine Winterbesteigung mit Urubko am Nanga Parbat sowie eine Solobegehung von Everest und Lhotse ab. Moro ist verheiratet und hat zwei Kinder.
www.simonemoro.com
Denis Urubko
geboren am 29. 7.1973 in Newinnomyssk, Russland. Lebt in Almaty, Kasachstan. Bestieg 1999 im Rahmen des Snow-Leopard-Projects die fünf Siebentausender der CIS-Staaten in 42 Tagen. Hat alle vierzehn Achttausender bestiegen. Spezialität: Neue Routen in extremen Höhen: Südseite Broad Peak (2005), Nord-Ost-Route Manaslu (2006), Süd-Ost-Route Cho-Oyu (2009), 2010 Alleinbegehung einer neuen Variante von der Everest-Südschulter
zum Lhotse. Besteigt im Winter Makalu (2005) und Gasherbrum II (2011), zusammen mit Moro. Urubko ist verheiratet und hat zwei Kinder.
Cory Richards
geboren am 18. 5. 1981 in Salt Lake City, Utah/ USA. Lebt in Boulder, Idaho. Als Abenteuer- und Expeditions-Fotograf hält Cory fest, was der Kampf am Berg mit dem Menschen macht. Mit Ines Papert eröffnet er 2009 eine neue Linie am Kwangde Shar. Im Februar 2011 bestiegen Richards, Moro und Urubko den Gasherbrum II. Seine Filmdoku „Cold“ erhält zahlreiche Preise. Bisher acht Expeditionen im Himalaya (Makalu, Ama Dablam, Tawoche,
Lhotse und Nuptse), vier Expeditionen in Südamerika, Peru. Im Mai 2012 versucht er, über den Westgrat zum Everest aufzusteigen, erkrankt jedoch und muss evakuiert werden. Richards ist verheiratet. www.crichardsphoto.com
Erschienen 2013 im Alpenvereinsjahrbuch "BERG 2013", Tyrolia Verlag Innsbruck
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