Bei der Begrüßung wirkt Schultes verschmitzt und zurückhaltend. Er spricht mit gepflegt bayrischer Note und strahlt die Gelassenheit all jener aus, die ihrer Sache sicher sind. Sein Studio in Seefeld besteht aus einem hellen großen Raum, an der Schmalseite eine Bücherwand aus Ikea-Regalen voll mit Bildbänden. Design-Ikonen schmücken die Fensterreihe. Im selben Raum arbeiten zwei junge Mitarbeiter. "Mitarbeiter? Nein, wir sind eher so eine Art Design-WG, die Industrial Design Associates", sagt Schultes, "Ana Relvão, Gerhardt Kellermann und ich arbeiten an unseren eigenen Themen, aber manchmal sitzen wir auch gemeinsam an Projekten." Hier funktioniert er anscheinend, der kreative Generationenvertrag. Im Hintergrund läuft dezente Jazzmusik. Schultes trägt weißes, nackenlanges Haar, dazu einen schwarzen Anzug, ohne die Spur steif zu wirken. Auch die markante Rundbrille ist schwarz.
Designchef bei SiemensSeine Laufbahn begann Schultes mit einem Ingenieur- und Designstudium in München. Geboren in Freiburg, wuchs er in den Bergen am Schliersee auf. Die Stationen: Ab 1967 arbeitete er mit seinem Partner Norbert Schlagheck im eigenen Büro namens "Schlagheck Schultes Design", München. 1985 wurde er Chefdesigner von Siemens. Später wurde die Abteilung ausgegliedert, heißt seit 1999 "designafairs". Dort führte er von 1997 bis 2000 die Geschäfte. Daneben baute Schultes den Studiengang Industrial Design am Oskar-von-Miller-Polytechnikum München und an den Kölner Werkschulen mit auf. Er arbeitete unter anderem für Agfa, Atomic, Bulthaup, Classicon und Osram. Einige seiner Entwürfe stehen in Museen. Er erhielt zahlreiche Ehrungen und bedeutende Preise. Wichtige Entwürfe: zum Beispiel die Stehleuchte "Orbis", die Sessel "duktus" und "korpus" und vor allem in den letzten Jahren die erfolgreichen Bulthaup-Küchen. So viel zu den Fakten.
An welchen Erfolg aus den Anfangsjahren er sich besonders gern erinnert? "Wir hatten Ende der 1960er-Jahre den Auftrag, für das Unternehmen Marker, dem es damals nicht gutging, eine Skibindung zu entwerfen. Also beschlossen wir erst mal, mit sämtlichen Mitarbeitern am Wochenende Ski fahren zu gehen, um das Umfeld zu studieren. Leider gerieten wir auf der Salzburger Autobahn in den Stau. Sehr ärgerlich. Doch dann realisierten wir, dass viele Autos um uns Ski auf den Dächern hatten - die heute üblichen Skiboxen gab es noch nicht." Eine perfekte Marktübersicht also. Man verglich die Modelle, entwickelte erste Ideen und überprüfte diese später. Um es kurz zu machen: Die Bindung "M40" wurde ein großer Erfolg, brachte das Unternehmen Marker wieder in Schwung und verschaffte Schultes zahlreiche neue Aufträge - weitere Skibindungen für Atomic und ESS-Var, mit denen zum Teil der Ski-Nationalkader ausgestattet wurde, Skischuhe für Trak und Dynafit, Tennisschläger für Kneissl, Surfboards und Accessoires für HiFly. Und ein Gummistiefel für Kinder, entworfen für die Marke Elefanten: "Die Sohle war vorne und hinten hochgezogen und nahm damit die Silhouette heutiger Joggingschuhe vorweg", beschreibt Schultes seinen Entwurf.
Schönes in hoher AuflageAngetreten, um das klassische Industriedesign nach vorne zu bringen, interessierte sich Schultes "vor allem für die absolute Großserie, für Massenproduktion in Auflagen bis zu einer Million Stück". Möbel oder Autos gehörten nie dazu. "Das sind ganz eigene Disziplinen", sagt er. "Zumal viele Hochglanzmagazine bis heute den Begriff Industriedesign nicht verstanden haben und stets mit Möbeldesign verwechseln." Was ihn am klassischen Industrial Design denn so fasziniert, will man wissen. Geht es ihm gar um den demokratischen Gedanken und darum, gutes Design einer möglichst großen Zahl von Menschen zu ermöglichen? "Das wird im Nachhinein gern verklärt", sagt Schultes. "Ich für mich hab immer eine Herausforderung darin gesehen, Gebrauchsgegenstände in hoher Auflage zu produzieren, bei der sämtliche Stücke absolut identisch sind." Was dabei richtiges oder falsches Design sei, diese Beurteilung habe er sich längst abgewöhnt. " Aber man kann zwischen gut und schlecht unterscheiden. Qualität ist messbar." Ein weiteres Erfolgsmodell aus seiner Hand ist die "Optima 1035" für Agfa - das schwarze Gehäuse mit abgerundeten Ecken avancierte in den späten 1970er-Jahren zur Kultkamera. "Die Strenge wird durch den roten Auslöserknopf gebrochen", erklärt Schultes, geistig der Tradition der Ulmer Schule verhaftet. "Interessanterweise zieht sich das Thema der abgerundeten Ecken bis heute durch und findet sich sogar in iPhones wieder", sagt er. Später unterrichtete er am Oskar-von-Miller-Polytechnikum in München und an der Kölner Werkschule, propagierte den Begriff des "Design light" und stellte damit ökologische Aspekte in den Vordergrund. Immer stand er auch in engem Kontakt zu Künstlern und Kollegen, darunter Richard Sapper, Dieter Rams und Pierre Mendell. Einen weiteren Freund, den 2007 verstorbenen Ettore Sottsass, hält er übrigens für den besten Designer des gesamten 20. Jahrhunderts - trotz oder gerade wegen Memphis.
Förderer des Deutschen DesignsUnd dann fragte die Siemens AG bei ihm an, bot die Nachfolge des damaligen Chefdesigners Edwin Schricker an. Worum es bei diesem Auftrag ging? Um nichts weniger, als den Auftritt eines der weltgrößten Unternehmen zu modernisieren. "Zu diesem Zeitpunkt war die Firmenmarke Siemens rund 50 Jahre unberührt", erinnert er sich. "Vom Logo über die Unternehmensfarben bis hin zu den Produkten haben wir das gesamte Portfolio gestalterisch überarbeitet." Drei Jahre dauerte der Prozess, bis das Corporate Design und die dazugehörigen Guidelines entwickelt waren. Insgesamt arbeitete er 15 Jahre für Siemens, leitete bis 2000 die ausgegliederte Designabteilung in München. Seitdem widmet er sich als Berater und Designer wieder eigenen Projekten.
Welche seiner vielen Auszeichnungen, darunter das Verdienstkreuz Deutschlands, ihm heute die liebste ist? "Das hat mich noch nie jemand gefragt", sagt er verblüfft und denkt nach. "Doch, vielleicht ist es sogar der Preis ,Förderer des Deutschen Designs', den ich vom Bundesministerium für Wirtschaft erhalten habe." (Franziska Horn, Rondo, DER STANDARD, 22.11.2013)
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