Diesen Brief schrieb Yaser, zehn Jahre, vor zwei Wochen an die Betreuerinnen einer Hilfsorganisation, die für 32 Kinder im neuen Flüchtlingslager auf Lesbos eine therapeutische Betreuung anbietet.
Der Junge sitzt auf einer bunt angemalten Holzpalette auf einem Hügel und schaut auf das Lager herunter, das aussieht wie ein Wimmelbild: Bis an die Küste erstrecken sich die Zelte der rund 7200 Bewohner, mehr als ein Drittel von ihnen sind Kinder und Jugendliche.
Bagger piepen, Schleifmaschinen surren, Bohrer graben sich kreischend in den Stein, Baumaschinen tragen den Sand des ehemaligen Truppenübungsplatzes ab, Lkw fahren die Landstraße entlang.
Seitdem vor drei Monaten ein Feuer weite Teile des vorherigen Lagers Moria zerstört hat, leben die 7200 Menschen hier im neuen Camp noch immer auf einer Baustelle. "Tagsüber höre ich das Quietschen der Maschinen", sagt Yaser, "und nachts den Wind." Manchmal würde er sich die Ohren zuhalten. Doch abstellen könne er die Geräusche nicht. Und jeder Tag fühle sich an, als würde die Zeit eine Schleife drehen. "Für andere Kinder geht es immer vorwärts, für mich nur mehr rückwärts."
Aufgrund der Corona-Maßnahmen dürfen die Bewohner nur einmal pro Woche das Lager verlassen, um einzukaufen, einen Anwalt zu besuchen oder in der Hafenstadt in die Apotheke zu gehen.
Auch Yaser hat nur einen Termin in der Woche: Jeden Montag geht er mit seinem Vater Reza A. den Hügel zum Gemeinschaftszentrum hinauf - zu seinem Termin in der Hilfsorganisation Medical Volunteers International (MVI). Es wird gezeichnet und gespielt, heute basteln sie ihr eigenes "Mensch ärgere Dich nicht". Ab Dienstag zählt Yaser die Tage, wann endlich wieder Montag ist.
Seit dem Feuer, seit dem Umzug in das neue Lager, habe sich die psychische Situation vieler Kinder dramatisch verschlechtert, sagen medizinische Organisationen. Laut Ärzte ohne Grenzen leiden immer mehr Kinder unter Schlafwandel, Panikattacken, Bettnässen oder der Angst, allein im Zelt zu bleiben. Die NGO kommt mit der Behandlung nicht mehr hinterher. "In einem solchen Ausmaß wie jetzt haben wir psychische Probleme noch nicht einmal in Moria erlebt", sagt Thanos Chirvatidis von Ärzte ohne Grenzen.
Allein in ihrer Stadtklinik, die auf die psychische Betreuung von Überlebenden von Folter und sexueller Gewalt sowie Menschen mit schweren psychischen Störungen spezialisiert ist, stehen schon seit Juli mehr als 50 Patienten auf der Warteliste. In der Kinderklinik stehen hundert Kinder und Jugendliche auf der Liste.
Noch nie habe er solche schlaflosen Nächte mit seiner Familie erlebt, erzählt Reza A., 37 Jahre alt. Nicht in der Unsicherheit in Afghanistan. Nicht in Iran. Auch nicht, als er bei der Grenzüberquerung in die Türkei von Polizisten zusammengeschlagen wurde und seinen Vorderzahn verlor. "Das war einer der schlimmsten Momente der Flucht, da meine Kinder zusahen", sagt Reza, "doch ich konnte ihnen danach sagen, dass es weitergeht."
Er macht eine Pause. "Heute", sagt er, "finden meine vier Kinder keine Zuflucht mehr in meinen Worten. Sie glauben mir nicht mehr, wenn ich sage, dass bald alles besser wird."
"Wenn ein Kind sieht, dass seine Eltern aufgeben oder Angst haben, bricht auch ihnen das Gerüst weg", sagt Chirvatidis. Kinder hätten zudem nicht die gleichen Ventile wie Erwachsene, um Erlebtes oder Traumata auszudrücken. "Daher wird das Erlebte vor allem im Schlaf nach oben gespült." Oft werden Kinder auch apathisch, appetitlos oder aggressiv.
Um nach dem Feuer weiter mit den Kindern arbeiten zu können, hätten sie daher zuerst die Eltern stabilisieren müssen, erzählt Chirvatidis. Bei ihnen seien Panikattacken, suizidale Gedanken und Angstzustände die Hauptsymptome, ausgelöst vor allem durch die Aussichtslosigkeit, die viele inzwischen empfinden.
Viele der Menschen waren, nach Tagen auf der Straße, nur widerwillig in das neue Lager gegangen. Die Furcht, eingesperrt zu werden oder noch einmal den gleichen Lebensumständen wie in Moria ausgesetzt zu sein, war für sie kaum auszuhalten.
"Es ist eine ganz neue Form der Hoffnungslosigkeit im neuen Lager ", beobachtet Joseph Oertel, der bis vor Kurzem als Betreuer in dem therapeutischen Kinderprojekt von MVI gearbeitet hat. In Moria hätte es zumindest noch selbstorganisierte Schulen oder Kindergärten gegeben, sagt er. Es war ein Ort, an dem das Alltägliche zwar erstaunte, aber doch allgegenwärtig war.
Das neue Lager sei vor allem auf die Überwachung der Geflüchteten ausgerichtet. Schulangebote oder Spiele für Kinder gäbe es kaum. "Immer wieder verstecken sich Kinder nach dem Projekt, weil sie nicht zurück ins Lager wollen", sagt Oertel.
Fatima A. holt mit ihrem Mann Hassan ihre zwei Mädchen von der Kinderbetreuung ab. "An den Tagen ist sie immer super drauf", sagt die 30-jährige. Die Familie kommt aus Ghazni, Afghanistan. Seit mehr als einem Jahr leben sie in Zeltlagern auf der Insel.
"Heute Nacht werden wir trotzdem alle wieder nicht schlafen können." Auf ihrem Handy zeigt sie ein Video der fünfjährigen Elaha. Das Mädchen sitzt auf einer Matratze. Zitternd. Immer wieder bläst sie die Backen auf. Drückt die Hände gegeneinander. Dann steht sie auf, schreit, rennt durchs Zelt. "Ich kann sie in diesen Momenten nicht erreichen", sagt Fatima, "sie macht mir Angst."
Die Drohnen, der Stacheldrahtzaun, die kontrollierten Ein- und Ausgänge im neuen Lager wirken für viele wie ein Gefängnis, sagt Kinderpsychologe Thanos Chirvatidis. " Viele Kinder haben auch Angst vor der Polizei, sie werden nicht als Beschützer wahrgenommen, sondern vor allem als Bestrafende."
Insgesamt seien etwa 300 Polizisten rund um die Uhr im Einsatz, teilt das Camp-Management mit. Sie kontrollieren unter anderem die Maskenpflicht. Und bei der Essensausgabe, berichten Camp-Bewohnerinnen, würden Sicherheitskräfte immer wieder herumbrüllen und Schlagstöcke einsetzen, um alle in einer Reihe zu ordnen.
Neben der angespannten Lage drücken die Lagerbedingungen auf die Stimmung. Es fehlt noch immer fließend Wasser und verlässliche Elektrizität. "Es wird noch mehrere Monate dauern, damit zumindest ein Teil des Lagers einen Wasseranschluss bekommt", sagt Astrid Castelein, Leiterin der Uno-Flüchtlingsorganisation auf der Insel. Zur Wintersicherung hat das Hilfswerk kürzlich Europaletten unter die Zelte geschoben.
Das Migrationsministerium hatte zusammen mit der EU-Kommission angekündigt, bis September 2021 ein neues Lager auf der Insel zu bauen. Immer wieder spricht der Vizemigrationsminister Notis Mitarakis von "geschlossenen Strukturen" auf den Ägäischen Inseln. "Ein geschlossenes Lager darf es in Europa nicht geben", sagt hingegen Castelein.
Ärzte ohne Grenzen fordert schon seit Jahren die Evakuierung der schutzbedürftigen Menschen aus dem Lagern. Sie bräuchten zudem nicht nur Schulen, warmes Wasser und Elektrizität, sondern auch die Perspektive, in Sicherheit gelangen zu können.
Auch Yaser fühlt sich längst nicht sicher, wie sein Vater nachts zu spüren bekommt.
"Beim ersten Mal weckten mich die Nachbarn aus dem Tiefschlaf", sagt Reza A., "ich lief sofort los. Das Zelt war nur zehn Meter vom Meer entfernt." Yaser stand in den schwarzen Wellen. Er redete. Reza sagt, er wusste sofort, dass sein Sohn nicht bei vollem Bewusstsein war. "Nie wieder sollte mir das passieren", sagt er. "Wenn die Nachbarn nicht gerufen hätten" - er bricht ab.
Seitdem bindet er jede Nacht eine Zeltschnur um Yasers und sein Handgelenk. Oder er schläft am Zelteingang, damit er jede Bewegung spürt.