„Die Menschheit ist in ihrer größten Vollkommenheit in der Race der Weißen", so Immanuel Kant in seiner Vorlesung über Physische Geographie im Jahr 1802. „Die Neger sind weit tiefer, und am tiefsten steht ein Theil der amerikanischen Völkerschaften."
Selbst der Philosoph der Aufklärung und Miterfinder universeller Menschenrechte, war der Vorstellung nicht ganz abgeneigt, der Entwicklungsstand eines Menschen richte sich nach ethischer Abstammung. Wo stehen wir heute? Wie tief verwurzelt sind Rassismus und Imperialismus in der westlichen Weltsicht? Wie weit entfernt sind wir von der Idee, dass alle Menschen gleich sind?
Das sind Gedanken, die einen begleiten, wenn man das Werk von Claudia Andujar, 84, in Augenschein nimmt. Sie hat mit den Yanomami gelebt. Eine der „amerikanischen Völkerschaften", die im Amazonasgebiet in Brasilien und Venezuela beheimatet ist.
Aufopferung für Menschen, die keine Lobby haben
1971 trifft Claudia Andujar zum ersten Mal auf die Yanomami. Der „Weiße Mann" beginnt zu der Zeit, in das Land einzudringen. Die brasilianische Militärregierung baut eine Autobahn durch den Amazonas. 1975 suchen Minenunternehmen nach Eisenerz.
Der Anführer der Yanomami, Dave Kopenawa, erklärt: „Die Menschen von den Städten kamen mit Maschinengewehren und Flugzeugen. Wir kannten bisher nur wilde Tiere. Das war unsere Polizei." Die Gegenwart der Yanomami ruft bei Andujar Erinnerungen an die eigene Vergangenheit hervor.
Ihre Kindheit verbringt Andujar in Rumänien und Ungarn, muss schließlich mit ihrer Mutter vor der Verfolgung des NS-Regimes fliehen. Ihr Vater, ein ungarischer Jude, und der Großteil ihrer Verwandtschaft kommen im Konzentrationslager Dachau ums Leben. 1945 emigriert Andujar in die USA zu ihrem Onkel.
Erste Erfolge als Fotojournalistin
In New York feiert sie erste Erfolge als Fotojournalistin mit Publikationen für das Magazin LIFE und der New York Times. 1955 folgt sie schließlich ihrer Mutter nach São Paulo in Brasilien. „Die Fotografie war ein Weg, um meine Gefühle auszudrücken", erklärt Andujar. Solange sie noch kein Portugiesisch spricht, ist die Kamera ihr bester Übersetzer. 1971 schickt sie das Reportage-Magazin Realidade schließlich in das Land der Yanomami.
Andujar ist fasziniert. „Sie waren so neugierig und haben mich respektvoll behandelt", resümiert sie. Eine Nachricht erreicht die Redaktion der Realidade: Ich bleibe hier!
Andujar kehrt fortan dem Fotojournalismus den Rücken, um sich ihrem Lebensprojekt zu widmen. Sie beginnt mit einem Fotoessay, der das traditionelle Leben der Yanonami festhält: Rituelle Zusammenkünfte, Schamanismus, gemeinsame Tänze, Körperbemalung und Trance-Sessions.
Claudia Andujar beobachtet. Die Fotos sind frei von Ethno-Romantik und Wertung. Sie zeigen große Intimität. Man muss sich vor Augen führen, dass Claudia Andujar sieben Jahre mit den Yanomami gelebt hat. Immer tiefer taucht sie in ihre Kultur ein und spiegelt den Lebensraum, die Erfahrungen und Gefühle der Menschen wider.
Ihre Arbeit dauerte bis 1977 an, bis sie von der Militärregierung aus dem Amazonasgebiet vertrieben wird.
Eine Absicht der Künstlerin stößt auf Widerstand. Andujar will die neulich kontaktierte Bevölkerung der Yanomami registrieren lassen - als Akt ihrer Anerkennung. Die brasilianische Regierung sieht davon ab und plant 1978 das Land in 21 Parzellen aufzuteilen. Eine offene Auseinandersetzung beginnt.
Claudia Andujar gründet daraufhin mit dem Missionar Carlo Zacquini, dem Anthropologen Bruce Albert und vielen anderen die „Comissão Pró-Yanomami" ( CCPY) - eine Nichtregierungsorganisation, die sich für die Rechte der Yanomami im Amazonasgebiet einsetzt.
Bemerkenswert: Der ästhetische Status ihres Schaffens ist Andujar gleichgültig. Mitunter meiden Künstler eine Lesart ihres Werkes und halten die Semantik in der Schwebe, um relevant zu sein. Die Fotografin hingegen scheut nicht die Verantwortung, sich weiter für die Yanomami einzusetzen, weil sie der Lauterkeit ihrer Motive sicher ist. Sie beschließt den Kampf der Yanomami ums Überleben mit allen Kräften zu unterstützen. Der ästhetische Ausdruck ihrer Fotografien gewinnt durch ihren persönlichen Einsatz eine ethische Dimension.
Claudia Andujar erklärt ihre Beweggründe lakonisch: „Ich habe angefangen die Yanomami zu fotografieren. Dann änderten sich eben die Umstände. Es ging ums blanke Überleben. Deshalb habe ich meine Arbeit mit ihnen auf andere Weise fortgesetzt."
Die Foto-Serie „Marcados"
In den 80er Jahren setzt der Goldrausch ein. Bis zu 40.000 Goldgräber schürfen illegal im Land der Yanomami und bringen als tödliches Souvenir Krankheiten wie Masern, Polio oder Grippe mit. Die Indios sind gegen diese Bedrohung nicht gefeit.
Von 1981 bis 1983 fotografiert Claudia Andujar Porträtbilder von den Yanomami, um eine Krankenakte zu erstellen. Der medizinische Ausweis ist notwendig, damit ein Team von Ärzten Impfungen durchführen kann.
Eine Hürde: Die Yanomami hören nicht auf einen Namen. Deshalb greift das medizinische Team auf die Identifizierung mit Hilfe von Nummern zurück.
Die Markierung ist fragwürdig. Sie anonymisiert. Sie spricht einem Individuum die Würde ab. Erinnerungen an Konzentrationslager werden wach. Andujar verurteilt die Methode nicht oder legitimiert sie gar - sie will den Menschen ja helfen. So nimmt sie sich für jedes Porträt bis zu einer Stunde Zeit und versucht in jeder Fotografie Bruchstücke einer Identität, einer eigenen Lebensgeschichte herauszuarbeiten. Denn diese Menschen hier, sind im Gegensatz zu denjenigen in Konzentrationslagern nicht markiert worden, um den Tod zu finden. Sondern um zu leben.
Die moralische Zweideutigkeit, die erzählende Kraft der menschlichen Gesichter tragen dazu bei, dass die Serie später als „Marcados" (Die Markierten) Einzug in ihr fotografisches Ouvre findet.
Alle Bemühungen von Andujar und der Nichtregierungsorganisation CCPY gipfelten 1991 in der Entscheidung der brasilianischen Regierung, das Land der Yanomami anzuerkennen. 9,6 Millionen Hektar wurden ihnen zugesprochen.
Doch die Anerkennung steht nach wie vor auf wackeligen Beinen. Goldgräber dringen weiter in das Amazonasgebiet ein und verüben 1993 das Massaker von Haximú, bei dem 22 Menschen abgeschlachtet werden.
Aktuell durchläuft ein Gesetz den brasilianischen Kongress, das Minenarbeiten im Land der Yanomami erlauben soll. Die Regierung hat eine Garantie für das Land abgegeben. Aber was sich unter der Erde befindet? Verhandlungssache! Der Kampf um das Dasein geht für die Yanomami in die nächste Runde .
Die Kunst der Menschlichkeit
Claudia Andujar hat sich ihrer Sache verschrieben. Dabei war ihr nie wichtig, ob sie als Fotografin, Künstlerin, Aktivistin oder Widerstandskämpferin reüssiert. Ihr Werk fasst 60.000 Fotografien. Ihr eigentliches Werk besteht aus Lebenszeit.
Ein eigener Pavillon im Kunstpark Inhotim, wo Kunst, Natur und Architektur in Einklang zusammenfinden, ist eien würdige Stätte für ihr Vermächtnis.
Es ist ein Ort, wo ihre Kunst der Vorstellung einer unveränderlichen Welt eine Absage erteilt. Es ist ein Ort, der erzählt, dass jede menschliche Initiative, jedes geschichtliche Handeln, aus dem subversiven Turnus des noch nicht Erreichten hervorgeht.
Mit einem Satz: Die Vision von der Gleichheit aller Menschen ist nicht versperrt, die Utopie hat gerade in Inhotim neue Öffnungszeiten bekommen.
Auf einen Blick
Galeria Claudia Andujar in Inhotim
Öffnungszeiten: Di - Fr, 9:30 Uhr - 16:30 Uhr Sa - So, 9:30 Uhr - 17:30 Uhr
Rua B, 20 Inhotim, 35460-000 Brumadinho, Brasilien
Internet: http://www.inhotim.org.br/