Von Kira Gantner, Nino Seidel, Zita Zengerling, NDR
17 Mal bestellten die Fahnder Drogen im Internet: darunter zehn Gramm Marihuana für 100 Euro, 25 Ecstasy-Tabletten für 112,50 Euro, 50 Gramm "Colombian Cocaine" für 3010 Euro. Die "besonders hohe Qualität" aus den Testkäufen sei "hervorzuheben", erklären Ermittler in internen Dokumenten des Bundeskriminalamtes, die NDR und "Spiegel" einsehen konnten.
Tausende Seiten protokollieren, welche ungewöhnlichen Wege die Fahnder gehen mussten, um die Betreiber von Deutschlands größter Drogen-Plattform zu fassen. Unter dem Namen "Chemical Revolution" verkaufte eine Gruppe von Cyberkriminellen im Internet verschiedenster Betäubungsmittel, darunter Amphetamin, Cannabis und MDMA sowie Kokain und Heroin. Die Betreiber verdienten damit laut Ermittler mehr als eine Million Euro.
Rauschgifthandel auf hohem Niveau"Es ist definitiv feststellbar, dass der Rauschgifthandel im Internet in den letzten Jahren stetig zugenommen und sich aktuell auf hohem Niveau eingependelt hat", erklärt das Bundeskriminalamt (BKA) auf Anfrage von NDR und "Spiegel". Belastbare Zahlen, inwiefern die Corona-Krise diesen Trend noch zusätzlich befeuert hat, gibt es nach Aussage des BKA derzeit noch nicht. Klar sei aber schon jetzt: Bereits vor Corona wurden immer mehr Betäubungsmittel übers Internet verkauft und mit der Post versandt.
Drogen per Post nach HauseDer Postversand spielte auch bei "Chemical Revolution" eine große Rolle, zeigen die Akten. Auch hier kamen offenbar bestellte Drogen per Post nach Hause. Observationsfotos, die dem NDR und "Spiegel" vorliegen, zeigen junge Männer mit Supermarkttüten vor DHL-Packstationen, wie sie mutmaßliche Drogenbestellungen in der ganzen Stadt aufgeben. Zusätzlich lasen die Ermittler Chats von Verdächtigen mit und hörten Telefonate ab. So auch eines zwischen zwei Mitgliedern von "Chemical Revolution", als einer von ihnen an einer Packstation stand. Sinngemäß sagten die zwei Mitarbeiter:
"Wie kann man Pakete eigentlich bei der Post abgeben?"
"Wie meinst du das jetzt?"
"Ich bin hier gerade bei der Packstation, aber wie kann ich Pakete aufgeben? Muss ich die einfach irgendwo hier rein tun?"
"Ja, du musst auf versenden drücken."
Neue Tätergruppe: "jung, männlich, computeraffin"Laut BKA handelt es sich bei digitalen Drogendealern häufig um "junge, männliche, computeraffine Personen". Oftmals seien diese Täter noch relativ "neu im Geschäft" und nicht so sehr in bestehende Netzwerke wie die "klassischen" Täter integriert. Das scheint, zumindest zum Teil, auch bei "Chemical Revolution" der Fall zu sein.
Alle Verdächtigen sind männlich, nur einer von ihnen ist älter als 40 Jahre. Der mutmaßliche Chef von "Chemical Revolution" ist 27 Jahre alt und nannte sich im Internet "Joko". Den Ermittlungen zufolge hielt er Kontakt zu einem Niederländer, der die Drogen bereitstellte. Die Ermittler gehen davon aus, dass Kurierfahrer die Drogen nach Deutschland transportierten. Danach sollen in wechselnder Besetzung sogenannte "Läufer" die Drogen portioniert und verpackt haben, um sie dann per Post im Standard- oder Expressversand an die Kunden zu verschicken.
Dieser digitale Drogenversand kann neue Käufergruppen für den Drogenmarkt anwerben, erklärt das BKA. Aktuelle Zahlen deuten demnach daraufhin, dass ländliche Regionen etwas stärker erreicht werden. Generell biete das Darknet den Käufern einen "relativ einfachen und vermeintlich sicheren Zugang zu Betäubungsmitteln", weswegen möglicherweise auch Kunden angesprochen werden, die bislang durch konventionelle Dealer, beispielsweise am Bahnhof, eher abgeschreckt worden seien.
Falle durch einen VerräterDie internen Dokumente, die " Panorama - die Reporter" und "Spiegel" vorliegen, offenbaren ein Ende der Ermittlungen wie aus einem Kriminalroman: Die Betreiber von "Chemical Revolution" kontaktieren einen Bekannten, der den Shop einst mit aufbaute. Er vermittelt ihnen einen Käufer für ihre Restbestände der Drogen. Was die Macher von "Chemical Revolution" zu dem Zeitpunkt nicht wissen: Längst arbeitet dieser Bekannte mit den Behörden zusammen. So erhalten sie von dem Verräter zwar einen Kontakt zu einem vermeintlichen Drogenkäufer, doch der ist in Wirklichkeit ein verdeckter Ermittler des BKA. Er schreibt schließlich sinngemäß in einem Chat mit dem Drogenlieferanten:
"Willst du ein Geschäft machen?"
"Ja ich habe einiges an Stoff. - Hast du Interesse"
"Ja auf jeden Fall - Was hast du genau?"
"Viel Stoff: Weed, Speed, LSD oder Heroin."
Showdown auf einem Rewe-ParkplatzAuf einem Rewe-Parkplatz in Hamburg soll der vermeintliche Drogenkäufer 40.000 Euro in einer Sporttasche übergeben. Dafür soll er über zwölf Kilogramm verschiedenster Rauschmittel erhalten. Das Treffen wird von den Fahndern mitgehört. Kurz vor der Übergabe bestätigt der verdeckte BKA-Ermittler sinngemäß: "Alles in Ordnung, tutto paletti." Offenbar ist dies ein Codewort, denn kurz danach nehmen die Kollegen die Verdächtigten fest.
Im Februar 2019 werden so fast alle Mitglieder von "Chemical Revolution" überführt. Einzig der Kopf der Gruppe wird zunächst nicht gefasst. Denn den echten Namen von "Joko" kennen laut Ermittlern nicht einmal alle seine Mitarbeiter. Meist kommunizierte er über verschlüsselte Messenger. Diese technischen Anonymisierungsmöglichkeiten bezeichnet das BKA auch als "die wohl größte Hürde der Ermittlungen von 'digitalen' Drogendelikten."
So sind es nur kleine Fehler, die digitale Täter dann doch enttarnen können: Den mutmaßlichen Kopf von "Chemical Revolution" verrät schließlich eine Pizzabestellung. Den Ermittlern gelingt es, die Zahlung bis zu "Joko" zurückzuverfolgen. So enttarnen sie den mutmaßlichen Chef der Gruppe und nehmen ihn im Mai 2019 fest.
Er und zehn weiteren Personen sind wegen bandenmäßigen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge angeklagt worden. Ein Prozesstermin steht noch aus.