Die Krisen sind im Wesentlichen vom Europäischen Rat angegangen worden. Und in ihm sowie speziell in der deutschen Bundesregierung, die ja den stärksten Einfluss im Rat hat, gab es bislang nicht den Mut und die Klarsicht, die Krisen wirklich im Kern anzugehen. Angela Merkel hat immerzu nur Krisenmanagement betrieben, weil sie die entscheidende Herausforderung zu ihrer Lösung nicht angehen wollte: ein solidarisches Handeln. Sie meinte offenbar, dass sie das ihren Wählern nicht zumuten kann. Damit hat sie suggeriert, dass eine echte Unterstützung nur dazu führt, dass die Hilfsbedürftigen nur noch fauler und verantwortungsloser werden. Das zeigt ein ganz tiefes Misstrauen gegenüber den Nachbarn. Angela Merkel hat einen ganz persönlichen Anteil daran, dass diese Krisen sich jetzt häufen.
Fehlende Solidarität ist auch ein Problem in anderen europäischen Ländern. Das zeigt das mehrheitliche Votum für den Brexit. Wie finden wir dafür eine Lösung?
Erstmal begreifen wir gerade alle, dass der Brexit bei weitem nicht so feststeht, wie es am 24. Juni noch schien. Denn jetzt hat sich herausgestellt, dass die Volksabstimmung nicht bindend ist - zwar politisch, aber nicht rechtlich. In den nächsten Monaten kann sich die Stimmung noch sehr ändern. Vielleicht wollen deshalb jetzt auch die Brexit-Befürworter abwarten. Es ist gut möglich, dass es eine Abstimmung im Unterhaus geben wird, und dann wird der Brexit doch noch abgelehnt. Demokratie ist ein konstanter Lernprozess. Das zu erkennen, gehört zum Finden von Lösungen. Dazu ist entscheidend, sich zu verständigen und konstruktiv auszutauschen und nicht nur andere zu attackieren.
Ich bin immer für sehr viel mehr politische Bürgerbeteiligung, aber nicht besonders für Volksabstimmungen. Die sollten höchstens eine beratende Funktion haben. Ich glaube, dass die politische Beteiligung vor allem darin bestehen sollte, dass man möglichst viele Bereiche hat, in denen die Menschen mitbestimmen - zum Beispiel in Unternehmen, in Gemeinden und Vereinen. Es kommt hier darauf an, dass auch partizipiert wird und auch selbst entschieden werden kann. Da sind Volksentscheide aber aus meiner Sicht völlig irreführend. Zumal man kaum von ihnen wegkommt, wenn sie einmal bindend gefallen sind. Um öffentliche Debatten zu fördern, können Abstimmungen mit beratender Funktion allerdings sinnvoll sein. Wenn man jetzt auf England schaut, kann man sich vorstellen, dass es auch noch zu einer positiven Wende der Politisierung und auch des europäischen Geistes kommen kann. Jetzt wird deutlich, was mit dem Brexit alles aufs Spiel gesetzt worden ist. Plötzlich merken die Menschen: Politik geht uns an.
Aber wie! Das war eine sehr ermutigende Erfahrung. Die Politik kann daraus sehr viel von den Bürgern lernen, und nur wenn sie das tut, wird sie auch weiterkommen. Besonders die Unterstützung für Flüchtlinge von so vielen Menschen hat gezeigt, dass deren Problemlösekompetenz beachtlich hoch ist. Ich glaube, dass in der Gesellschaft viele Männer und Frauen, die tagtäglich mit Problemlösung zu tun haben, weit unkonventioneller und erfindungsreicher sind als viele Menschen in der Politik. Die Bürger haben ja zum Teil weit mehr bewegt als all die Mitarbeiter in Behörden, die nur nach festen Regeln handeln konnten, obwohl Improvisation nötig war. Hier wurde deutlich, dass man ruhig auch mal Fünf grade sein lassen kann: Die Menschen können Dinge einschätzen und haben ein Urteilsvermögen, wann es sich lohnt, mal außerhalb der Regeln zu handeln.
Das ist ein sehr wichtiges Problem. Die Ursache für die Verklausulierung ist aus meiner Sicht ein Mediensystem, in dem viele Journalisten versuchen, sensationelle Formulierungen zu finden und Skandalisierung zu betreiben. In diesem System ergreifen die Politiker Vorsichtsmaßnahmen, um keine Machtvorteile zu verspielen. Kommunikationsberater bringen ihnen dann bei, ganz bewusst auf Fragen nicht oder ausweichend zu antworten, um sich nicht angreifbar zu machen. Doch die Menschen spüren natürlich, dass das überhaupt keine authentische Kommunikation mehr ist. Gleichzeitig versuchen zahlreiche Populisten mit brutaler Klartext-Rederei und der sogenannten Durchbrechung von Tabus den Wählern Vertrauen einzuflößen. Diese Kombination ist fatal. Das heißt, dass wir auch auf der anderen Seite Klartext reden müssen, und das nicht nur den Menschen überlassen dürfen, die eine Brutalisierung der Bevölkerung bewirken.
Ich glaube, wir lernen das als Individuen. Das muss schon sehr früh anfangen: In der Familie, in der Krippe, im Kindergarten muss vermittelt werden, wie man sich mit den anderen verständigt. Das heißt: hinhören, aufmerksam sein, die anderen achten und anerkennen. Das ist der erste Schritt. So muss man dann auch in der Schule, in Vereinen und in Freundeskreisen lernen, dass es ganz verschiedene Menschen mit ganz unterschiedlichen Perspektiven und Erfahrungen gibt. Dann können wir uns auch verständigen, wohin wir zusammen wollen: Wo sind die gemeinsamen Ziele? Was ist uns allen wichtig? Welche Unterschiede gibt es und was für Kompromisse kann man finden? - das ist dann der nächste Schritt. Entscheidend ist es, das später auch auf alle möglichen Kontexte zu übertragen.
Populisten finden auch deshalb so viele Anhänger, weil die Komplexität der aktuellen Probleme viele Menschen überfordert. Kann Bildung einen Beitrag leisten, um das zu ändern?
Ich kann schon gut verstehen, dass sich die Menschen überfordert fühlen. Politik ist ja auch für jemanden, der sich von morgens bis abends damit beschäftigt, kaum noch nachvollziehbar. Aber zur Bildung: Ich glaube, dass dort ein noch größerer Fokus auf die Urteilsfähigkeit gelegt werden muss. Das schließt vieles ein. Denn man muss ja nicht nur eine Menge wissen, sondern das Gelernte auch einordnen können und sich klar machen, dass diese Einordnung immer auch eine Bewertung ist. Außerdem sollte man in der Lage sein, seine eigene Bewertung zu begründen und die Bewertung der anderen zu verstehen. Nur durch sehr viel Nachfragen bei sich selbst und bei anderen, kann man die Beurteilungen auch miteinander vergleichen. Das ist gleichsam der Urtyp des sokratischen Fragens. Das Suchen nach Begründungen und Implikationen, ist aus meiner Sicht immer noch völlig aktuell.
Das ist ein fundamentales Problem unserer Bildungskultur. Seit etwa 30 Jahren haben wir eine sehr ökonomistische Wettbewerbskultur, die in immer mehr Bereichen der Gesellschaft um sich gegriffen hat. Sie hat dazu geführt, dass jeder gegen jeden steht, weil jeder immer der Erste sein muss. Hinzu kommt, dass bei uns untergründig immer noch eine stark autoritäre Mentalität herrscht. Sie basiert auf dem Denken, dass man mit Druck und Gewalt mehr schafft als mit Verständigung und positiver Unterstützung. Dabei wissen wir auch als Erwachsene, dass wir nur dann Dinge gerne und wiederholt tun, wenn sie uns gelingen. Dafür müssen wir Vertrauen wecken und Potentiale stärken. Die Kultur des Wettbewerbs und des Misstrauens müssen wir überwinden.