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Reportage spécial

Die Coyoten bestimmen

Beinahe hätten sie es geschafft. Den Rio Grande, der in Mexiko Río Bravo heißt, Wilder Fluss, hatten sie schon durchquert. Doch dann erschienen plötzlich US-Migrationsbeamte und stoppten Carlos Wilmer Salinas und seine Familie. "Es war auf einem Berg, an einer Straßenkreuzung", erinnert sich der Mittvierziger aus El Salvador. Die Uniformierten hätten ihn, seine Frau und die drei Kinder in ein Internierungslager gebracht, berichtet er. "Fünf Tage lang wurden wir getrennt in Zellen festgehalten. Dann haben sie uns nach Mexiko abgeschoben."

Nun sitzt Salinas in einer Methodistenkirche in der nordmexikanischen Grenzstadt Ciudad Juárez und spielt mit seiner sieben Monate alten Tochter. Der Pfarrer der Kirche, Juan Fierro García, hat die Pforten für Migranten geöffnet, die in die USA einreisen wollen: Mittelamerikaner, Kubaner, Afrikaner.

Salinas fragt sich, wie lange sie hier ausharren sollen. Nachdem sie festgenommen worden waren, stellten er und seine Familie mit der Begründung, sie würden zu Hause von Jugendbanden bedroht, in den USA einen Asylantrag. Doch ihre Anhörung findet erst am 23. Dezember statt und es ist wahrscheinlich, dass danach noch weitere Termine folgen, bis die US-Behörden irgendwann ihre Entscheidung fällen. "Wie sollen wir hier überleben?", fragt der Salvadorianer. "Die Löhne sind schlecht, Arbeit gibt es kaum."

So wie er und seine Familie sind viele Migrantinnen und Migranten gezwungen, auf unbestimmte Zeit an der Grenze zu warten, denn Mexikos Regierung hat sich auf Druck des US-Präsidenten Donald Trump hin bereit erklärt, die Schutzsuchenden aufzunehmen, während ihr Asylverfahren in den USA läuft. Seither sind in Grenzstädten wie Tijuana, Mexicali und Ciudad Juárez die Herbergen überfüllt und die Hilfsorganisationen überfordert. Viele Menschen leben auf der Straße, ohne Schutz vor kriminellen Banden.

Tausende warten in Mexiko

Zwischen dem 29. Januar und 7. Juli des laufenden Jahres haben die US-Behörden 8.649 zentralamerikanische Asylsuchende nach Ciudad Juárez zurückgeschickt, das besagen Zahlen der mexikanischen Nationalen Migrationsbehörde (INM). Keine andere Stadt in Nordmexiko nahm mehr Menschen auf. An der gesamten Nordgrenze wurden mehr als 18.000 Asylsuchende nach Mexiko zurückgebracht. Nicht wenige haben erst in einem Jahr einen Anhörungstermin. Nur die wenigsten Anträge werden akzeptiert.

"Für viele ist das sehr frustrierend", sagt Pfarrer García. Manche hätten legale Wege für ihre Einreise gesucht und müssten erleben, wie ihnen diese versperrt würden. Jetzt versuchten auch sie, anders über die Grenze zu kommen. "Aber das ist sehr schwierig, weil wir jetzt die Nationalgarde hier haben."

Die mexikanische Nationalgarde ist eine neue Truppe, die ursprünglich vom Präsidenten Andrés Manuel López Obrador (AMLO) gegründet wurde, um die im Drogenkrieg ausufernde Gewalt im Land einzudämmen und die organisierte Kriminalität zu bekämpfen. Jetzt soll sie die Grenzen sichern. 15.000 Soldaten und Nationalgardisten hat die mexikanische Regierung in den vergangenen Wochen an den Rio Grande geschickt. Die Truppenmobilisierung zählt zu den "beispiellosen Maßnahmen", auf die sich López Obrador und Trump am 7. Juni geeinigt haben, um Strafzölle für aus Mexiko in die USA importierte Waren zu vermeiden. Ganz vom Tisch ist Trumps Drohung, solche Zölle einzuführen, allerdings nicht. Bis Ende Juli hat López Obrador unter der Vereinbarung nun Zeit, um beweisen, dass er fähig ist, die Migration einzudämmen.

Menschen verdursten und ertrinken

Für die vielen Menschen, die den Rio Grande überqueren, hat die Präsenz der neuen Sicherheitskräfte schwerwiegende Konsequenzen. Mit ihren Sturmgewehren und in Tarnkleidung patrouillieren die Beamten der Truppe entlang des Flussufers in Ciudad Juárez. Nur wenige Meter trennen sie von dem Eisenzaun, den Migrantinnen und Migranten immer wieder zu überwinden versuchen.

Die Uniformierten sollen niemanden festnehmen, sondern nur die Grenzübertritte verhindern. Doch faktisch zwingen sie die Menschen, den Fluss in immer entlegeneren Gebieten zu durchqueren – weit weg von der Stadt, in der steinigen Wüste. Das kann tödlich enden. Bei Temperaturen, die in diesen Tagen 40 Grad Celsius übersteigen, verdursten regelmäßig Menschen. Andere ertrinken in den Fluten des Flusses. Nach einem Ende Juni veröffentlichten Bericht der UN-Migrationsorganisation IOM starben in den vergangenen fünf Jahren 1.907 Menschen beim Versuch, entlang dieser Grenze einzureisen. Allein im Jahr 2018 kamen 343 Erwachsene und 14 Kinder ums Leben.

Als López Obrador im Dezember 2018 sein Amt übernahm, versprach er Freizügigkeit. Wer nach Mexiko kommen wolle, könne einreisen und sich sicher bewegen, sagte er. Doch wenn man heute heute mit Mitarbeitern einer staatlichen Hilfsgruppe spricht, die Migranten an der Grenze versorgen, ist die Skepsis kaum zu überhören.

"Die Südgrenze ist zur ersten Mauer der USA geworden"

Man bemühe sich, die zurückgeführten Menschen gut zu behandeln, betonen sie im Gespräch. Aber manche der neuen Maßnahmen seien problematisch. Zum Beispiel die Durchsuchungen. Auf der gesamten Migrationsroute in Mexiko durchkämmen Nationalgardisten derzeit Hotels, zudem kontrollieren sie Bahnhöfe und Straßen. Busunternehmer sollen Ausweise überprüfen. Amnesty International machte Anfang Juli darauf aufmerksam, dass die Sicherheitskräfte ohne rechtliche Grundlage in eine Herberge eindringen wollten.

Wer ohne die nötigen Dokumente reist, ist mehr denn je auf Menschenschmuggler angewiesen. Auch Salinas und seine Familie waren mit Coyoten unterwegs, wie die Schlepper genannt werden. 15.000 US-Dollar hat der 43-jährige Familienvater ihnen gezahlt: ein Vermögen, das er in langer Zeit angespart hatte.

Die Reise war schwierig: Mal saßen sie mit den Kindern stundenlang unter brennender Sonne auf einer Lkw-Ladefläche, mal mussten sie in Busse umsteigen. "Die Coyoten bestimmen, wie die Dinge laufen", erzählt Salinas. Ohne einen Schutzengel, sagt er, wären sie wohl nie lebend über den Rio Grande gekommen. Andere entscheiden sich, mit dem Güterzug zu reisen, den alle die Bestie nennen. Lange Zeit verzichteten Migranten auf die gefährliche Fahrt, weil zu viele von den Dächern der Waggons gefallen waren und Arme oder Beine verloren hatten. Doch angesichts der Kontrollen ist die Bestie heute wieder attraktiv.

Für die Migrantinnen und Migranten wird die Reise durch den zwischen den USA und Mexiko vereinbarten Pakt immer gefährlicher und teurer. Doch für Präsident Trump zahlt sich das Abkommen aus. Im Mai haben US-Beamte noch 144.000 Einwanderer an ihrer Südgrenze festgenommen, im Juni waren es laut dem Washingtoner Heimatschutzministerium 25 Prozent weniger. Die INM meldet indes, Mexiko habe im selben Monat ein Drittel mehr Migranten in ihre Heimat abgeschoben – so viele wie seit 2006 nicht mehr.

Nationalgardisten an der Südgrenze

Auch im Süden Mexikos steht Militär. Die Regierung hat 6.000 Nationalgardisten an die dortige Grenze geschickt, um Zuwanderer daran zu hindern, illegal einzureisen. Ein Teil von ihnen ist nun am Grenzfluss Río Suchiate stationiert, der Guatemala von Mexiko trennt. Bis vor wenigen Tagen galt die Überquerung des Río Suchiate als sicherer Einreiseweg. Täglich bringen dort junge Männer auf Flößen Früchte, Getränke und andere Waren auf die andere Seite. Ebenso selbstverständlich reisten bislang Migranten auf den Booten ein.

Der 16-jährige Gabriel Romero ist ebenfalls über den Fluss gekommen. Mit seiner Schwester, seinem Schwager und deren Kind sei er aus Honduras geflüchtet, weil sie dort von Kriminellen erpresst worden seien, sagt er. Die Nationalgardisten standen damals noch nicht am Ufer, doch ein paar Kilometer weiter kontrollierten Einwanderungspolizisten. Die Beamten hätten sie eingekesselt, berichtet der Junge. Deshalb seien sie geflohen. Plötzlich seien ihnen zwei Männern mit Macheten gegenübergestanden. "Sie überfielen uns und nahmen uns alles ab, was wir hatten: die Schuhe, die Kleidung und unser ganzes Geld."

Seither hängt Romero in Tapachula fest. Wie Tausende weitere Migrantinnen und Migranten wartet er darauf, dass ihm die Behörden ein Visum ausstellen, das ihm die Weiterreise ermöglichen soll. Denn ohne gültige Papiere – oder ohne die Hilfe von Schleppern – könnte die Reise an den ersten Kontrollen außerhalb von Tapachula enden.

Aufstände im Internierungslager

Auch hier sind die Herbergen überfüllt, viele Menschen schlafen auf der Straße oder in Billigpensionen. Im Internierungslager Siglo XXI, dem "21. Jahrhundert", warten Migrantinnen und Migranten unter katastrophalen Zuständen auf ihre Abschiebung. Sie berichten von Ratten, völlig verdreckten Toiletten, zu wenig Essen und Wasser sowie Erniedrigungen durch die Wärter. Immer wieder kommt es zu Aufständen, weil sich die Menschen gegen ihre Abschiebung wehren.

"Viele werden abgeschoben, bevor klar ist, ob sie asylberechtigt sind", sagt Enrique Vidal, der sich in Tapachula im Menschenrechtszentrum Fray Matías de Córdova um die Zuwanderer kümmert. Das Migrationssystem kollabiere, sagt er. Bis zu 200 Hilfesuchende betreut seine Einrichtung täglich, doppelt so viele wie im Vorjahr. Vidal erklärt das damit, dass immer mehr Menschen ihre Heimat verlassen, weil ihnen nichts anderes mehr übrig bleibe: "Die Leute migrieren nicht mehr, um besser zu leben, sondern um ihr Leben zu retten." Dass seine Regierung mit einer "Militarisierung", also der Stationierung der Nationalgardisten reagiert, zeigt für ihn deren Hilfslosigkeit. "Die Südgrenze ist zur ersten Mauer der USA geworden", resümiert Vidal.

3.000 Kilometer weiter nördlich überlegt Salinas, ob er und seine Familie nicht nach El Salvador zurückkehren sollten, trotz der Jugendbanden und trotz der Perspektivlosigkeit. Die mexikanische Regierung bietet mittlerweile Rückfahrten mit dem Bus an, da die Hilfskosten für die Stadtverwaltungen ins Unermessliche steigen. "Viele sind desillusioniert, weil sie erst 2020 einen Anhörungstermin bekommen. Sie ziehen es vor, in ihr Herkunftsland zurückzukehren", sagt der Bürgermeister von Ciudad Juárez, Armando Cabada. Trump würde das gutheißen.