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"Die Süßigkeiten waren das Beste"

Ernst, beherrscht und konzentriert. So wirkt Linda Zervakis, wenn sie die Nachrichten in der "Tagesschau" vorliest. Was wenige wissen: Sie tauschte Zigaretten, Süßigkeiten und Spirituosen gegen Teleprompter und Scheinwerferlicht. Vom Kiosk zur "Tagesschau" – das ist die Geschichte von Linda Zervakis, die sie jetzt aufgeschrieben hat: Auf 224 Seiten erzählt die bekannte Nachrichtensprecherin in ihrem ersten Buch "Königin der bunten Tüte" Anekdoten aus ihrer Kindheit im Stadtteil Harburg.

"Schmierereien im Aufzug, Scherben im Kellergeschoss und überall Zigarettenkippen auf dem Boden" – so beschreibt die Journalistin das Mietshaus, in dem sie aufwuchs. Als Tochter von griechischen Gastarbeitern lebten sie und ihre beiden Brüder in einfachen Verhältnissen in einer Dreizimmerwohnung. Gestört habe sie das jedoch nie: "Auch wenn wir jeder kein eigenes Zimmer hatten, war es eine lustige Zeit."

Viele ihrer Klassenkameraden wuchsen in großen Einfamilienhäusern auf und hatten sogar Dienstmädchen. Wenn sie zu Besuch bei Schulfreunden war, fühlte Zervakis sich nicht immer wohl: "Zu Hause hatten wir beim Essen meistens nur eine Gabel, das Messer lag meistens unbenutzt auf dem Tisch, weil man entweder mit der linken Hand gestikulierte oder Brot zum Tunken hatte. Bei meinen Mitschülern zu Hause wusste ich am Anfang nicht, wofür die zusätzlichen Löffel oder Gabeln sind." Auch die Nachmittage der Deutschgriechin waren anders als die ihrer Mitschüler. "Während andere Kinder nachmittags Hobbys ausübten, war ich entweder in der griechischen Schule oder bei uns im Laden", so die Neununddreißigjährige.

Der Laden war ein Kiosk in Harburg, den Zervakis' Eltern gepachtet hatten. Schon als Kind half Zervakis an ein bis zwei Nachmittagen in der Woche aus und kaufte dreimal in der Woche nach der Schule oder später vor der Arbeit auf dem Großmarkt ein. "Die Süßigkeiten waren das Beste. Man konnte sich jederzeit bedienen", lacht die Nachrichtensprecherin. "Es war toll, die neusten Schokoriegel in der Werbung zu sehen und sie dann in der Metro zu kaufen."

Der Kundenstamm des Kiosks war vielfältig: vom Lehrer über den Handwerker bis hin zum Alkoholiker. Sehr humorvoll beschreibt Zervakis einige der Stammkunden: Stinker, Trinker und Ex-Knacki. "Die Körpergerüche waren schon schwierig", so Zervakis. Natürlich habe es auch die "normalen" Kunden gegeben, aber über diese zu schreiben sei nicht so lustig gewesen.

Beim Lesen des Buches fallen zwei Dinge auf, die schon seit ihrer Kindheit wichtig für Zervakis waren: Essen und Fernsehen. "Essen ist mit das Wichtigste in unserer Familie. Auf Familienfesten wird richtig aufgetischt. Fünf große Souflaki, Brot und Salat sind nur die Vorspeise", so Zervakis. In ihrem Buch beschreibt sie die griechische Großfamilie als "100 liebenswerte Dickköpfe". "Ich glaube, ich habe 35 Cousins und Cousinen, aber auf irgendwelchen Festen entpuppt sich immer mal wieder jemand als neuer Cousin oder Cousine", so Zervakis. Alle zwei Jahre versuche sie nach Griechenland zu reisen. Sie vermisse die Sprache, den Duft und das Gewusel in der Heimat ihrer Eltern.

Als Kind lernte Zervakis Griechisch in der griechischen Schule, doch schnell sprach sie mehr Deutsch, weil sie die Nachmittage bei einer deutschen Tagesmutter verbrachte. Die zweifache Mutter wünscht sich, dass auch ihre Kinder Griechisch lernen, doch mit der zweisprachigen Erziehung sei es schwierig. "Ich komme mir ein wenig doof vor, wenn alle anderen, auch mein Mann, Deutsch sprechen und ich dann Griechisch spreche. Mein Sohn antwortet auf Deutsch und mir fehlen im Spiel mit ihm wichtige Vokabeln, wie etwa Lokführer", so Zervakis.

Obwohl sie oft das Gefühl hatte, in Sachen Kleidung, exklusive Hobbys und Aussehen nicht mithalten zu können, kann man aus Zervakis' Buch herauslesen, dass sie ein glückliches Kind war. Als sie 14 war, sollte sich das ändern: Ihr Vater starb an Krebs, die Mutter arbeitete von da an von 6 Uhr morgens bis 21 Uhr abends 15 Stunden täglich im Kiosk. Zervakis kümmerte sich um ihren kleinen Bruder, der damals zehn Jahre alt war, und half häufiger als zuvor im Laden aus.

"Mit dem Tod meines Vaters ist eine Säule in der Familie weggebrochen. Während andere in die Disco gingen oder sich schminkten, wurde ich ins Erwachsenenleben katapultiert und musste Verantwortung übernehmen", so Zervakis. Auch nach ihrer Schulzeit, als sie bei einer Werbeagentur als Texterin arbeitete, half Zervakis an den Wochenenden im Familienkiosk aus. Eigentlich hatte die "Tagesschau"-Sprecherin einen Studienplatz in Berlin, doch sie wollte ihre Mutter nicht zurücklassen, die ihre Hilfe im Familienbetrieb brauchte.

Der Kiosk der Familie hat heute einen neuen Pächter, die drei Kinder haben alle Arbeit – die Gastarbeiterfamilie ist ein Beispiel dafür, wie Integration gut funktionieren kann. "Meine Eltern haben immer gesagt, dass wir uns in Deutschland so benehmen sollen, wie die Deutschen es gerne hätten, denn wenn Fremde nach Griechenland kommen, wollen wir das Gleiche. Außerdem war es ihnen wichtig, dass wir gut Deutsch lernen", so Zervakis.