"Eigentlich dürfen wir hier in unserer Freizeit nicht rein", sagt der Mann auf Englisch. Hastig dreht er alle Heizungen in dem kleinen Raum auf. Draußen auf dem Flur der Flüchtlingsunterkunft am Fliegerhorst hallen die Schritte des Wachmanns nach, der zuvor die Tür des Gemeinschaftsraums aufgeschlossen hat. Eigentlich bleibt dieser Raum mit seinen Holzstühlen und Tischreihen immer verschlossen. Niemand darf ihn unerlaubt nutzen. An diesem Tag gibt es eine Ausnahme. Der Mann, der Englisch spricht, heißt Kaleem Tombo. Er ist 35 Jahre alt. Mit vielen anderen Geflüchteten ist er vor zwei Jahren aus Tansania nach Deutschland gekommen. In seiner Heimat droht Tombo eine lange Gefängnisstrafe.
Er nimmt an einer Tischgruppe Platz. Ihm gegenüber lässt sich der 44-jährige Rajabu Madaki (beide Namen von der Redaktion geändert) auf einen der Stühle fallen. Auch er ist Tansanier. Seit zwei Jahren leben sie im Flüchtlingsheim. In Tansania wohnten sie in der selben Stadt, kennen gelernt haben sie sich erst in Deutschland. Ihre Asylgesuche wurden abgelehnt. Jetzt warten sie seit Monaten auf die Wiederaufnahme ihrer Verfahren. Die beiden verbindet eine ähnlich traurige Geschichte, doch auf den ersten Blick merkt man ihnen ihren Schmerz nicht an. Wenn der eine nicht lächelt, lächelt der andere. Will der eine erzählen, nickt ihm der andere unterstützend zu. Ihr Leben ist die perfekte Symbiose. Nur so schaffen es die beiden durch diese schwere Zeit.
Wer in Tansania versucht, eine homosexuelle Beziehung zu führen, geht ein hohes Risiko ein: Laut Human Rights Watch drohen Homosexuellen seit 2016 bis zu 30 Jahre Haft, wenn ihre sexuelle Neigung bekannt wird. Im Herbst 2018 hat der Gouverneur der ehemaligen Heimatstadt von Tombo und Madaki eine Liste erstellt: 200 Namen von angeblich homosexuellen Frauen und Männern stehen darauf. Er findet ihr Verhalten falsch. Deswegen lässt er sie verfolgen. In Dar-es-Salaam - im "Haus des Friedens", wie die Stadt auf Deutsch heißt - haben die beiden Männer alles andere als in Frieden gelebt.
Über 30 Jahre wahrt Tombo dort den Schein des heterosexuellen und erfolgreichen Familienvaters. Er hat eine Frau und eine kleine Tochter: Sharifa. Als Lastwagenfahrer und Seemann verdient er gutes Geld und kauft sich und seiner kleinen Familie ein Haus direkt am Strand. Er tut das alles, um seine Familie glücklich zu machen und vor allem: um nicht aufzufallen. Doch er selbst ist nicht glücklich. Heimlich trifft er sich mit seinem damaligen Partner. "Jeder in Tansania versucht sich zu verstecken. Doch irgendwann gibt es keine geheimen Orte mehr." Tombo senkt den Blick auf seine Finger, die fest ineinander verschränkt auf dem Linoleumtisch ruhen. Jemand hat mit schwarzem Stift ein Herz darauf gemalt - Tombos Mundwinkel ziehen sich nach oben. Man sieht ihm an: Eigentlich ist er ein fröhlicher Mensch. Wenn er lacht, dann lacht sein ganzer Körper: 1,78 Meter pure Freude. Doch wenn er jetzt erzählt, erreicht sein Lächeln nicht einmal seine Augen.
Als er und sein Partner entdeckt werden, nimmt die Polizei Tombos Freund sofort fest. Ihm selbst gelingt es, sich zu verstecken. Sechs oder sieben Monate lang sind die Behörden und Tombos Eltern auf der Suche nach ihm. Um auch ihn hinter Gitter zu bringen, veranstalten sie eine Hetzjagd: Ständig muss er umziehen, das eigene Haus vermieten. Er hat kein Geld mehr. Seine einzige Hilfe zu der Zeit: die Mutter seiner kleinen Tochter. Freilich sei sie zuerst böse gewesen, erzählt Tombo. Sein Blick senkt sich. Er fährt sich mit seinen Handflächen über den Kopf. Letztlich sei es seiner Frau aber wichtiger gewesen, dass es dem Vater ihres Kindes gut geht. Und, dass er nicht im Gefängnis landet. Von dort könnte er schließlich nicht dabei helfen, die Tochter zu versorgen.
Als sie ihn das letzte Mal warnt, dass ihm die Gruppe immer noch auf den Fersen sei, ist Tombo am Ende seiner Kraft. Er hat alles, was er besitzt, verkauft. Es bleiben zwei Möglichkeiten: Flucht oder Gefängnis. Zu dem Zeitpunkt steht seine Entscheidung schon fest: "I am done here!". Am nächsten Tag bucht er sich mit seinem letzten Geld einen Flug nach Warschau.
Ungefähr zur gleichen Zeit liegt Madaki in einem Krankenhaus in Dar-es-Salaam. Er hat versucht, sich mit Tabletten das Leben zu nehmen. Auch seine Familie hatte ihn verstoßen - schlimmer noch: Als sie herausfanden, dass Madaki Männer liebt, haben sie ihn bei der Polizei angezeigt. Damit er sich bessern könne, sagten sie, solle er ins Gefängnis gehen. Zwei Tage hielt er es dort aus, dann kaufte ihn ein Freund frei. Eigentlich gibt es in Tansania keine Möglichkeit für einen Homosexuellen, auf Kaution frei zu kommen. Doch in dem Land zählt Korruption mehr als das Gesetz. Ab diesem Zeitpunkt muss er sich vor seiner Familie verstecken. Jeder auf der Straße weiß, was passiert war. Ihm ist klar: Sie werden ihn jagen. Sein Ausweg: Selbstmord.
Während Madaki erzählt, gerät sein Suaheli immer wieder in Stocken. Seine Sätze sind kurz. Er spricht kein Englisch, doch manchmal wirkt es so, als könne Tombo auch seine Gedanken übersetzen. So stark ist ihre Freundschaft. Von dem zu erzählen, was er erlebt hat, fällt ihm aber offensichtlich auch in seiner Muttersprache schwer. Tombo hält den Blick, nickt, sagt ihm, dass er weitersprechen darf.
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