Sein Porträt eines afghanischen Mädchens mit rotem Kopftuch und den leuchtend grünen Augen wurde zur modernen Ikone und machte ihn weltberühmt. In Hamburg zeigt Steve McCurry jetzt Fotos, die auf Reisen entlang des "Coffee Trails" entstanden sind, unter anderem in Kolumbien, Brasilien, Äthiopien oder Vietnam. Anlässlich der Ausstellung in der Flo Peters Gallery sprach der Magnum-Fotograf mit art über den Wahrheitsgehalt von Bildern, die richtige Chemie und ungewöhnliche Fotos für einen Pirelli-Kalender.
art: Man findet in Ihren Fotos kaum Hinweise auf unsere Gegenwart - kein Plastik, keinen Müll, keine moderne Technologie und wenn man ein Auto sieht, ist es ein altes Auto. Herr McCurry, sind Sie ein Zeitreisender?
Steve McCurry: Sicherlich begebe ich mich an Orte, die Gegenwelten sind. In einem Kaufhaus kann ich einfach nichts entdecken, was mich interessiert.
In Kuba entdecke ich aber sehr viel. Das fasziniert mich. Russland auch. Das sind Orte, die mich berühren. Und das Leben ist zu kurz, um mich an Orten aufzuhalten, die mich nicht interessieren.
Was suchen Sie?
Charme. Die Welt ändert sich so schnell. Wir haben eine Zeit extremer Individualisierung hinter uns, in allen Lebensbereichen, in unserer Ernährung, Kleidung, Musik, Architektur, überall. Jetzt befinden wir uns in einer globalen Situation. Da finde ich es interessant, Regionen zu fotografieren, in denen man noch anders lebt: Tibet zum Beispiel. Da ist alles einzigartig. Das verschwindet jetzt. Es wird ein Teil Chinas und da geht viel verloren.
Und Sie wollen es festhalten?
Ja. Sonst fühle ich mich wie am Flughafen. Da weiß ich manchmal nicht, ob ich in Shanghai, Chicago oder Hamburg bin. Weil da alles gleich ist. Aber in einem italienischen Dorf weiß ich, dass ich in Italien bin.
Reisen Sie spontan oder planen Sie langfristig?
Recht spontan. Ich muss mich zwar nach Ausstellungsterminen richten. Dazwischen habe ich aber meine Reisezeitfenster.
Auf welche Reise freuen Sie sich gerade am meisten?
Auf Kuba. Und ich will nach Madagaskar und in den Iran. Dahin ganz besonders. Das wollte ich mein ganzes Leben. Weil es eines dieser Länder ist, die ständig in den Nachrichten auftauchen, aber über deren Menschen wir zu wenig wissen.
Ihr Studio betreiben Sie in New York City. Kommen Sie da überhaupt mal vorbei?
Ja, manchmal eine ganze Woche. Da habe ich einige Mitarbeiter und natürlich Verpflichtungen. Aber meine eigentliche Arbeit ist die mit der Kamera.
Als Sie den Pirelli-Kalender-2013 fotografierten, haben Sie auf Nacktaufnahmen, für die der Kalender eigentlich berühmt ist, verzichtet. Warum?
Bei dem Weg, den ich in der Fotografie eingeschlagen habe, fühlte ich mich wohler, es auf diese Weise zu machen. Ich bin zutiefst fasziniert von Aktfotografie und der nackten Figur, aber ich dachte, ich schlage in diesem Fall mal eine andere Richtung ein.
Eigentlich ein Skandal, diesen Kalender ohne Nackte zu fotografieren. Was hat Pirelli dazu gesagt?
Denen gefiel das sehr gut. Zumal es das 40. Jubiläum war. Es war ein großer Erfolg, die Bilder waren toll, geschossen vor der unfassbaren Kulisse Rio de Janeiros.
Und die Models? Adriana Lima posierte hochschwanger und mit Summer Rayne Oakes hatten Sie eine Frau vor der Kamera, die als Öko-Model gilt.
Für die Models war das eine außergewöhnliche Erfahrung. Da stand nicht ihr Körper im Vordergrund, sondern ihre Stimme. Jedes der Models engagiert sich für soziale Projekte. Plötzlich ging es nicht um Nacktheit, sondern um einen anderen Zugang zu ihrer Schönheit. Besonders interessant fand ich Petra Nmcovà, die nicht nur unfassbar sexy ist, sondern sich auch massiv für Hilfsorganisationen einsetzt. Bei der Pressekonferenz wurden dann mal andere Fragen gestellt, als immer nur: "Wie war es, nackt für diesen Fotografen zu posen?".
Da standen die Frauen ganz anders im Vordergrund.
Mit dem Porträt eines afghanischen Mädchens haben Sie das wohl am weitesten verbreitete Foto einer Unbekannten geschaffen. Wie gelingt es Ihnen, so viel in einem Gesicht zu entdecken?
Die meisten meiner Begegnungen sind Zufallsbegegnungen. Ich sehe in einem Gesicht irgendeine überwältigende Geschichte, die mich bewegt und inspiriert. Dann überkommt mich ein Enthusiasmus. Mein Gegenüber merkt das offenbar und ich glaube, dass es dann diese gewisse Chemie zwischen mir und den Fotografierten gibt. Eine Verbindung. Schwer zu erklären. Das passiert einfach. Aus dieser Chemie entsteht das Foto.
Retuschieren Sie?
Ich mache das, was wir früher in der Schwarzweiß-Fotografie gemacht haben. "Dodge and burn" - abwedeln und nachbelichten. Das macht man, um einzelne Bildbereiche hervorzuheben. Die eigentliche Arbeit erledige ich aber draußen mit der Kamera, nicht am Computer.
Die Stiftung World Press Photo, die einmal im Jahr herausragende Pressefotos auszeichnet, hat in diesem Jahr bei rund einem Fünftel der Einreichungen Bildmanipulation festgestellt und diese Arbeiten disqualifizieren müssen. Entsteht das Besondere eines Fotos heute immer öfter im Digitalen?
World Press Photo kümmert sich um Pressefotografie und da trägt der Fotograf die Verantwortung für den Wahrheitsgehalt seiner Fotos. Ein Fotokünstler wie Andreas Gursky wiederum macht Manipulation zu einem Merkmal seiner Kunst. Die Grenzen zwischen Kunst- und Pressefotografie hat jeder einzelne Fotograf zu verantworten.
Aber Sie bewegen sich doch auch zwischen Presse- und Kunstfotografie.
Nein, ich gehe sehr streng mit mir selbst ins Gericht. Bei News darf nur das auf dem Foto sein, was auch in der Kamera war.
Aber manche würden Sie als Künstler bezeichnen und andere als Reporter.
Und was war Henri Cartier-Bresson? Wahrscheinlich beides, Dokumentarist und Künstler. Es geht in der Fotografie um den eigenen Blick, mit dem man den Dingen, die man sieht, einen Rahmen gibt.
Sie sind seit vierzig Jahren auf Weltreise, sind nicht verheiratet und haben keine Kinder. Empfinden Sie das als Opfer dafür, die Geschichten der Welt einfangen zu wollen?
Nein. Niemals. Ich liebe, was ich tue und dafür bringe ich keine Opfer, sondern dazu habe ich mich entschieden. Das ist ein großes Glück. Das Wort Opfer kommt mir nicht mal in den Sinn.