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Theaterkritik: "Inviting Strangers"

Inviting Strangers“ - Eine Theaterperformance im eigenen Wohnzimmer

Von Tom Oswald

„Du musst heiraten!“ - Ich will nicht, sagte ich. - „Das darfst du nicht sagen!“ Stille. Im Hintergrund ein verschwommenes Bild, dass mit einem provisorisch zusammengebastelten Projektor an die Wand geworfen wird.

Das eigene Wohnzimmer wird zur Theaterbühne

Vor einem Publikum aus circa 15 Personen knien vier junge Menschen: Miriam vom FFT, zur Unterstützung und drei Darsteller: Zahra, 32 Jahre alt, als afghanische Frau im Iran verfolgt. Neben ihr Pooriya, 14 und Rahim 16, beide aus Kabul. Alle drei sind seit circa einem Jahr in Deutschland. Sie werden später eine Geschichte erzählen. Ihre Geschichte. Pooriya hat eine Wolfskralle an der Hand. Alle drei sind hochkonzentriert. Ihr Blick ist angestrengt, die allgemeine Stimmung angespannt. Das Licht aus, die Aufführung beginnt.

„Ich bitte Euch, die Handys auszuschalten“, sagt Miriam. Zahra erzählt von ihrem ehemaligen Job, in der Fabrik. Akkordarbeit. „Immer wenn Mann kommt, musst du schneller arbeiten“. Der Stoff ihres Hemdes knistert von einem leichten Luftzug. Später erzählt sie von der Zwangsverheiratung mit ihrem Mann und das sie sich zwei Jahre lang vor ihrer Flucht vor ihm versteckt hat. Auf einmal wird sie still, steht auf und verteilt Pistazien unter den Zuschauern, die sie vorher, während sie über ihre alte Arbeit erzählt hat, in Zwei gebrochen und aus ihrer schützenden Schale entfernt hat. Stille.

„Die Taliban haben das Schulgebäude geschlossen“, Pooriya stockt der Atem. „Lernen war verboten“. Dagegen protestieren erst recht. Im Hintergrund ertönt leise eine eindringliche Melodie. Die Stimmung wird immer drückender, ja fast erdrückend. Niemand spricht.

Erster Impuls für dieses Experiment war ein Blick auf das Programm der FFT Kammerspiele. Titel: „Inviting Strangers“. Eine Wohnzimmerperformance. Was passiert hier? Die Zuschauer an diesem Abend waren neugierig und luden das Trio ins eigene Wohnzimmer ein. Ein Angebot für prinzipiell jeden - sobald er bereit ist, fremde Menschen in sein Wohnzimmer einzuladen. Das Stück wurde von Ingo Toben ins Leben gerufen. Er selbst kannte die Künstler vorher nicht. Zusammen konzipieren sie die Texte aus den real erlebten Geschichten der Darsteller. Zusammen probten sie, sodass die drei Trios von als Fremde von Wohnung zu Wohnung kommen und möglicherweise als Freunde wieder gehen. Termine können noch bis zum 24.11 gebucht werden. Wer von insgesamt drei Künstlertrios dann auch kommt, bleibt eine Überraschung. Heute sind es Pooriya, Rahim und Zahra.

Pooriya spricht: „Es war einmal ein Wolf in Kabul. Und er möchte in ein Haus. Die Bewohner vertrauten ihm nicht, also schnitt er seine Krallen ab, um ungefährlicher zu wirken.“ In dem Moment entfernt Pooriya die Krallen an seinem Wolfshandschuh. Ihm wurde das Märchen oft in seiner alten Heimat erzählt.

Ein Wendepunkt der Stimmung im heimischen Wohnzimmer

Ein verwundertes Raunen der Zuschauer zieht durch das Wohnzimmer. Kennen sie etwa das Märchen? Wie kann das sein, sie wissen doch so gut wie nichts aus der Kultur Afghanistans? Trotzdem kommt ihnen die Geschichte bekannt vor. Bekannt unter dem Titel: „Der Wolf und die sieben Geißlein.“ Auf einmal verschwindet bei den Zuschauern dieses Gefühl von Ungewissheit. Dieses Gefühl, ob sie das junge Trio für ihre schrecklichen Erlebnisse bemitleiden oder ihr Geschichten distanziert betrachten sollen.

Und am Ende begegnen sich
alle auf Augenhöhe

Und doch haben alle einiges gemeinsam. Unter anderem die Märchen, die uns als Gute-Nacht-Geschichten von unseren Eltern erzählt wurden oder in der Grundschule im familiären Sitzkreis vom Lehrer vorgelesen wurden. All diese Märchen existieren in nahezu ähnlichen Formen in den meisten Kulturen vieler Länder. Das wurde bei der anschließenden Fragerunde noch deutlicher. „Wir in Spanien haben ein ähnliches Märchen“, sagt eine Zuschauerin, die vor einigen Jahren von Spanien nach Deutschland ausgewandert ist. „Wir in Rumänien auch,“ sagt eine andere.

Ab diesem Punkt der Aufführung entstand auf einmal ein vertrautes Gefühl, ein Gefühl von Miteinander und gegenseitigem Austausch. Bei Fingerfood und Drinks wurde dieses Miteinander noch deutlicher. Die einen brachten Wein und andere Getränke mit, die anderen Fladenbrot und Hummus.

Das Trio hatte selbst gemachte Süßigkeiten dabei, nach einem afghanischen Rezept. Jeder sprach mit jedem in der Küche, fast wie auf einer WG-Party. Einer Party von anfangs fremden Gästen, die ihr eigenes Theaterstück mitbrachten und aufführten. Hier die Zuschauer auf Couch und Stühlen, unten in der Mitte die Darsteller. Am Ende unterhielten sie sich alle auf Augenhöhe.