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„Bier von Hier" will Bewegung in den NRW-Biermarkt bringen

Neue Brau-Philosophie: Fünf Kleinbrauer aus NRW ziehen neuerdings an einem Strang, um im Wettbewerb mit den großen Brauereien bestehen zu können.


„11 Euro“ steht auf dem Preisschild. Es klebt neben einer Bierflasche: „Aon Pecan Mud Cake“, heißt das Getränk, gebraut wurde es in Schweden. Jetzt, abgefüllt in ein 0,33-Liter-Gefäß, steht das „Imperial Stout“ in einem Essener Bier-Shop. Warum so teuer? „Wegen der Zutaten. Da sind Pekannüsse drin, die sind teuer“, wagt der Verkäufer den Versuch einer Erklärung.


Das „Aon Pecan Mud Cake“ ist eines der zahllosen „Craft Biere“, von denen zuletzt so viel gesprochen wurde. Die kleine, elf Euro teure Flasche ist sozusagen das glasgewordene Symbol einer neuen Brau-Philosophie: Brauer setzen wieder auf Klasse statt Masse, und sie wollen die Vorzüge des Handwerks gegenüber der industriellen Fertigung aufzeigen. Ob sie das, was dabei entsteht, nun „Craft Beer“ nennen, „Kreativbier“ oder „Besonderes Bier“, ist nebensächlich – es ist in jedem Fall ein Statement: „Weg vom Mainstream!“


In den vergangenen Jahren sind überall in Deutschland kleine, inhabergeführte Brauereien und neue Biermarken entstanden. Der Deutsche Brauer-Bund (DBB) geht davon aus, dass es hierzulande mittlerweile mehr als 6000 Biermarken gibt: „Damit haben die Verbraucher mehr Auswahl denn je“, heißt es. Es ist die Rede von einer „Craft-Beer-Welle, die von Amerika herübergeschwappt ist“. „Craft“ ist das englische Wort für „Handwerk“.


Holger Eichele, DBB-Hauptgeschäftsführer, nennt die Craft-Beer-Bewegung „ein Riesengeschenk“. Zugleich warnt er davor, dass solch ein Nischen-Segment die Gesamtverluste seiner Branche nicht auffangen kann. Im Jahr 1980 trank jeder Deutsche im Schnitt 146 Liter Bier pro Jahr, jetzt sind es nur noch rund 100 Liter. Bei der Suche nach Wegen, den Bierdurst der Deutschen wieder neu anzukurbeln, haben auch die etablierten Brauereien den Craft-Trend erkannt.


So entsteht eine neue Konkurrenz für die kleinen Brauer, die mit ihren Preiskalkulationen an die großen Brauereien nicht herankommen. Es braucht neue Geschäftsmodelle – und mitten in Nordrhein-Westfalen ist zur Zeit zu sehen, wie sich David gegen Goliath in Position bringt.


Die Szene tut sich zusammen, zieht gemeinsam an einem Strang, um im Wettbewerb mit den großen Brauereien mithalten zu können: Fünf Kleinbrauer aus Nordrhein-Westfalen wollen so den großen Brauereien einen Teil des Umsatzes im Biermarkt streitig machen.


Das „Brauprojekt 777“ aus Voerde, „fleuther“ aus Geldern, „Hensen“ aus Mönchengladbach, „Mücke“ aus Essen und „Ruhrpottbrew“ aus Oberhausen gehen gemeinsam mit dem Motto „Bier von Hier“ ins Rennen um durstige Kehlen. Bald soll der Slogan – und somit das Bier der Initiative – an immer mehr Orten im Ruhrgebiet und am Niederrhein zu finden sein.


Nach Angaben des Statistik-Portals Statista hat die deutsche Brauwirtschaft im vergangenen Jahr fast 8,3 Milliarden Euro umgesetzt. In die Berechnung eingeflossen sind allerdings nur Betriebe mit mehr als 20 Beschäftigten. Von solchen Zahlen können die Mitglieder der Initiative „Bier von Hier“ nur träumen. „Wenn es uns gelänge, den großen Brauereien bloß ein paar Prozent vom Markt wegzunehmen, dann könnten viele, viele kleine Brauer davon leben – auch dauerhaft“, sagt Patrick Schroeder von der Hensen-Brauerei in Mönchengladbach.


Ähnlich sieht es Torsten Mömken vom „Brauprojekt 777“: „Es wird immer schwieriger, gegen die großen Brauereien und ihre Vertriebsketten anzukommen“, sagt der 35-Jährige. „Wir brauen unser Bier am Niederrhein, und wir können es nicht kreuz und quer durch die Republik liefern. Frisches Bier, kurze Wege, hochwertige Rohstoffe – das zeichnet uns aus.“

Ein Problem der deutschen Kleinbrauer ist, dass sie ihr Bier nur mit großem Aufwand in die Regale der Getränkemärkte und die Kühlschränke der Gastronomie bekommen. „Unser Bier liefern wir persönlich aus. Wenn es sein muss, fahren wir auch für vier Kästen nach Dortmund“, sagt „Hensen“-Mann Patrick Schroeder. Rechnet man nun Sprit und Fahrtzeit ein, wird klar, dass das kaum wirtschaftlich ist.


Mitangestoßen hatte die Initiative „Bier von Hier“ der Essener Dennis Pfahl (36). Seit 2016 bringt er mit seinem Geschäftspartner Michael Kesseböhmer Bier der Marke „Mücke“ unters Volk. Pfahl setzte sich Ende 2018 an seinen Computer, öffnete das Mailprogramm und fing an zu tippen: „Wir sollten uns mal zusammensetzen...“, schrieb er. Und dann ging die Mail raus. Was er geschrieben hatte, fand schnell Anklang. Im Empfängerfeld standen die jetzigen Mitglieder von „Bier von Hier“.


Zunächst war geplant, ein gemeinsames Bier zu brauen. Doch als die Truppe beisammen war, wurde schnell deutlich, dass noch mehr möglich ist: „Wir haben überlegt, wie wir alle voneinander profitieren können“, sagt Pfahl. „Und eine Antwort war: beim Vertrieb.“


Dann begann die Arbeit. Die Bier-Enthusiasten suchten zunächst einen Logistikpartner, der für sie die Verteilung des Biers organisiert, dann gründeten sie eine gemeinsame Firma, entwickelten das „Bier von Hier“-Logo und entwarfen einen Bier-Schrank, den sie in Getränkemärkten aufstellen. „Da gibt’s auf einen Schlag mehr als 20 Biersorten, alle aus der Region“, sagt Pfahl.

25 dieser Regale mit dem „Bier von Hier“-Emblem stehen bereits zwischen Dortmund und Mönchengladbach. „Es sollen noch mehr werden“, sagt Dennis Pfahl. Wie viele? „Das bestimmt die Nachfrage.“


Und diese Nachfrage nimmt zu. Es gibt eine neue Lust am Bier. In vielen NRW-Städten treffen sich die Menschen bei Bierfesten, die Zahl an Biergeschäften nimmt zu. Dennoch entfällt nur etwa ein Prozent des Biermarkts auf den Craft-Bereich.


Für die deutschen Craft-Brauer bietet dies noch Raum für Wachstum. Erreichen wollen sie es, indem sie das Thema Bier neu denken. Sie entwickeln innovative Stile und nutzen alte Rezepte, um historische Biersorten wieder aus der Versenkung zu holen. Viele von ihnen pfeifen dabei auf das Reinheitsgebot. Das oft als Gütesiegel (miss)verstandene Gebot besagt, dass zum Brauen ausschließlich Hopfen, Malz, Wasser (und Hefe) verwendet werden dürfen.


Obgleich allein innerhalb der Grenzen des Reinheitsgebots – etwa durch unterschiedlich geröstete Malze oder außergewöhnliche Hopfensorten – eine schier grenzenlose Geschmacksvielfalt erzeugt werden kann, setzen manche Vertreter der Craft-Bier-Szene noch einen drauf. Sie toben sich am Braukessel so richtig aus. Bei der Rohstoffauswahl und Dosierung gehen sie anders vor, als es im Brauer-Handbuch geschrieben steht. So entstehen mitunter Biere, die schmecken wie Erdbeermarmeladen-Donuts, biergewordenes Vanilleeis oder flüssige Trüffeltörtchen.


In Deutschland, gesegnet mit allerlei Familien- und Privatbrauereien, entsteht im Grunde schon seit langem „Craft Beer“, ohne dass es so genannt wurde. Fakt ist aber auch, dass viele Großbrauereien über Jahrzehnte ihr Bier dem Massengeschmack angeglichen haben. In der Annahme, der Verbraucher erwarte ein stets gleichschmeckendes Bier, wurde das flüssige Kulturgut mit der Zeit beliebig. „Am Ende schmecken viele Biere wie bitteres, gelbes Wasser mit Schaum“, sagen Kritiker.


Dass ein klassisches Pils auch für Geschmacksexplosionen sorgen kann, zeigt sich bei Bier-Verkostungen, die an immer mehr Orten in der Region angeboten werden, beispielsweise in der „Ruhrpottbrewery“ in Oberhausen, in Duisburgs „Bierbude“ oder im Bochumer „Biermuda“. Solch ein handwerklich gebrautes Pils hat dann auch seinen Preis, etwa drei Euro für einen Drittelliter müssen Bierfreunde ausgeben.


Ob eine Flasche handwerklich gebrautes Bier aber wirklich elf Euro kosten muss wie das „Aon Pecan Mud Cake“ aus Stockholm? Vier Wochen nach unserem ersten Besuch steht das hochpreisige Bier aus Schweden immer noch im Regal des Bier-Shops. „Essen ist wohl noch nicht bereit für ein 11-Euro-Bier“, seufzt der Verkäufer.

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