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Ecuador: Geduld im Chaos

Eine überbordende Bürokratie, eine ans Absurde grenzende Ineffektivität und fragwürdige Hygienevorschriften im Krankenhaus haben Autor Tim Vogel während seines Praktischen Jahres nicht die Begeisterung für ein Chirurgietertial in Cuenca, Ecuador, austreiben können.

Cuenca, Ecuador, morgens um 6.30 Uhr. Die Sonne ist gerade aufgegangen, noch ist es sehr kühl in der 50 000-Einwohner-Stadt. Schlurfend nähern sich aus allen Richtungen verschlafene Gestalten in grünen Kasacks durch den Smog des morgendlichen Verkehrs dem Hospital Vicente Corral Moscoso - dem Universitätsklinikum Cuenca. Sie alle eint ein weißer Schriftzug auf Brusthöhe: „interno rotativo", also Medizinstudierende.

Für die ecuadorianischen Studierenden im Praktischen Jahr (PJ) beginnt ein langer Tag: Zwölf Stunden sind sie üblicherweise im Krankenhaus, alle drei bis vier Tage haben sie einen Turno, eine 24-Stunden-Schicht, an die sich direkt wieder die nächste 12-Stunden-Schicht anschließt. Die meisten sehen ihre Familien nur noch abends, ihre eigentliche Familie sind die Kollegen im Krankenhaus. Entsprechend locker ist die Atmosphäre, als wir uns morgens zur Visite auf dem „piso de chirurgia" sammeln. Alle quatschen viel und laut durcheinander, während wir auf die Oberärzte warten.

Die ausländischen PJ-Studierenden sind nicht zu einem solchem Pensum verpflichtet. Ich soll jeden Tag acht Stunden im Klinikum sein und pro Monat einen Turno absolvieren, so wie auch die beiden anderen deutschen PJlerinnen und die große, fluktuierende Gruppe an belgischen Studierenden. Aufgrund der kürzeren Anwesenheit werden ausländische Studierende erst einmal grundsätzlich nicht ernst genommen. Auch in fachlichen Fragen besitzen manche Internos ein großes Selbstbewusstsein, das nicht immer mit klinischer Kompetenz unterlegt ist. Viele ecuadorianischen Studierende sind aber auch sehr freundlich und erklären mir, manchmal sogar auf Englisch, was als nächstes zu tun ist. Ohne Spanisch wäre ich aber aufgeschmissen.

Von einem „Arbeiten im Krankenhaus" - wie man es von Deutschland kennt - kann in Ecuador aber nur bedingt die Rede sein. Angestellte verbringen zwar einen großen Teil ihres Tages im Krankenhaus. Viel Zeit vergeht aber beim Austausch mit Kollegen, dem Suchen von Formularen, Menschen oder Hilfsmitteln (in dieser Reihenfolge) oder dem Warten. Überhaupt ist Warten eine Schlüsselkompetenz am Hospital Vicente Corral Moscoso - und wahrscheinlich auch an anderen ecuadorianischen Krankenhäusern.

Es ist mittlerweile 7.30 Uhr und wir warten immer noch auf die Visite, die eigentlich vor einer halben Stunde beginnen sollte. Endlich kommt ein Pulk aus Ärzten die Treppe hoch und die Masse aus einem guten Dutzend PJ-Studierenden und ebenso vielen Ärzten schiebt sich durch den Flur zum ersten Zimmer. Nicht zwingend werden Patienten angesprochen, häufig werfen die Ärzte nur einen Blick auf die handschriftlich geführte Blättersammlung, die die Krankenakte darstellt und einen zweiten auf die hastig aufgerissenen Verbände, um die Wundheilung zu überprüfen. Dann werden ein paar Anweisungen an die PJ-Studierenden gebellt. Eine typische chirurgische Visite also.

Zum Abschluss der Visite verabschieden sich der Chefarzt der Notaufnahme und der Chefarzt der Chirurgie mit Ghettofaust. Ob dies aus Coolness oder hygienischen Gründen passiert, ist nicht sicher zu sagen. Statt auf Station die Rezepte für die Tagesdosis jedes Patienten zu schreiben und diese dann einzeln von der Apotheke zu holen, bin ich heute in der Notaufnahme eingeteilt.

In der Notaufnahme ist nicht viel zu tun: Ein Arzt ist in ein medizinisches Buch vertieft, ein anderer knipst sich die Fingernägel kürzer. Eine PJlerin putzt einen blutbeflecken Stiffneck auf dem „single use only" steht. So ist unser erster Patient Julio, selbst Interno in der Notaufnahme. Er hat Schmerzen in seinem rechten Handgelenk nach einem Boxkampf. Deshalb injiziert ihm Fernando, mein Stationsarzt, ein Glukokortikoid in die Fingerzwischenräume auf dem Flur der Notaufnahme. Da die Injektion ihm sichtlich Schmerzen bereitet, kann ich nicht einschätzen, ob die Therapie erfolgreich ist.

Kurz nach Julios Behandlung kommt eine etwa 20-jährige Frau in die Notaufnahme. Sie klagt seit Wochen über Bauchschmerzen, jetzt sei es besonders schlimm. Grundsätzlich gibt es in Ecuador ein in der Verfassung verbrieftes Recht auf Gesundheitsversorgung. Allerdings fehlt es insbesondere in ländlichen Gebieten an Infrastruktur, um dieses Recht umzusetzen.

Auch in den Städten gibt es für Behandlungen lange Wartelisten, da viele Ärztinnen und Ärzte aufgrund des besseren Gehalts lieber in Privatkliniken arbeiten. So zögern viele Ecuadorianer den Arztbesuch hinaus, bis es nicht mehr geht. So sparen sie sich die teure Privatbehandlung. Nur etwa 15 Prozent der Gesundheitskosten werden in Ecuador durch die staatliche Kran­ken­ver­siche­rung abgedeckt, 80 Prozent hingegen zahlen die Menschen direkt aus ihrem Portemonnaie.

Der Patientin wird Blut abgenommen. Dann schickt man sie ins Abdomen-Röntgen. Eine körperliche Untersuchung erfolgt - wie häufig in der Notaufnahme - nicht. Auch ein Schwangerschaftstest wird nicht durchgeführt. Weil es kostengünstiger ist, wird das Röntgen der Sonografie meistens vorgezogen.

Etwa eine halbe Stunde später kommt ein etwa 35-jähriger Mann mit blutüberströmter Hand zur Tür hinein. Wie viele der Patientinnen und Patienten in der Notaufnahme hatte er einen Arbeitsunfall - mit einer Kreissäge. Mit dieser hat er sich den Zeigefinger bis tief in die Handwurzel gespalten. Zunächst beginnt der Chefarzt der Notaufnahme den Finger zu nähen. Da seine Bemühungen, damit die Blutung zu stillen, vergeblich sind, wird der Mann nun doch in den OP gebracht.

Wenige Tage später werde auch ich mit den Traumatologen in den OP geschickt. Die Hygienevorschriften sind hier zwar etwas gewöhnungsbedürftig, aber dennoch lerne ich hier viel. So waschen sich die Chirurginnen und Chirurgen ausschließlich mit Seife die Hände - mit unterschiedlicher Geduld und Ausdauer. Die OP-Gebiete werden ebenfalls mit Nierenschalen voller Seife übergossen und so gereinigt. Auch im OP gilt Warten als wichtigste Disziplin, denn wenn man wissen möchte, zu welcher Zeit eine OP sicher nicht stattfindet, muss man nur auf den OP-Plan schauen.

Gegen Mittag nimmt mich Fernando mit zu einer besonderen Veranstaltung: Ein ecuadorianisches Pharma-Unternehmen präsentiert seine Produkte: Verschiedene Probepackungen werden zusammen mit Sandwiches aus dem Feinkostladen gereicht. Nach einer kurzen Powerpoint-Präsentation verabschiedet sich das Vertreterpaar schon wieder mit der Bitte, doch zukünftig ihre Produkte zu verschreiben. „Hasta Luego" (bis bald!) verabschieden sich die Ärztinnen und Ärzte von ihnen.

In den folgenden Wochen darf ich im OP immer mehr Aufgaben übernehmen: Angefangen vom Waschen der Patienten über den Wundverschluss bis hin zur Plattenosteosynthese bei Frakturen. Die Traumatologen erklären mir viel und haben auch schnell einen Spitznamen für mich: Timmy Turner - aus der Zeichentrickserie mit den Elfen, die sich auch in Ecuador großer Beliebtheit erfreut. So wird aus Fernando dann schnell die pequeña magica - die kleine Elfe.

Einmal darf ich auch bei einer Femurfraktur assistieren, die wir mit einem Marknagel versorgen. Als ich den Nagel in den Knochen schlage, rutscht mir der Hammer ab und landet auf dem Daumen des Oberarztes. Glücklicherweise fällt die Bestrafung milde aus: Einmal Pizza für das gesamte Team. Als dann schließlich gegen 18 Uhr keine weitere OP auf dem Plan steht, löse ich meine Schuld ein und wir genießen mit dem gesamten Team die Hammer-Pizza. ■

Reisen in und nach Ecuador

Foto: ii-graphics/stock.adobe.com

Hin- und Rückreise nach Quito, der Hauptstadt von Ecuador, kosten von Deutschland aus 800 bis 1 200 Euro (meist ein bis zwei Zwischenstopps). Nach Cuenca kommt man durch einen einstündigen Flug oder eine zehnstündige Busfahrt. Bei Ankunft bekommt man automatisch ein Visum für drei Monate - es muss für ein komplettes Tertial nach Ablauf des Visums für etwa 130 US-Dollar am Flughafen von Cuenca immer dienstags um weitere 90 Tage verlängert werden. Zudem sollte man sich reisemedizinisch beraten lassen und den Impfpass auf dem aktuellsten Stand halten. In Cuenca kann man sich gut per Bus (30 Cents je Fahrt, Aufladekarte hierfür gibt es an jeder Straßenecke) und Taxi (ein bis drei US-Dollar, Taximeter immer an) bewegen. Für Strecken zwischen den Städten gibt es zahlreiche Busse, die vom Terminal Terrestre für etwa einen US-Dollar/Stunde fahren. Die Busse fahren meist nicht schneller als 60 km/h, deshalb lohnt es sich für lange Strecken über Nacht zu fahren.

Leben in Cuenca

Die Universitätsstadt Cuenca liegt auf etwa 2 500 Metern Höhe und hat damit ein eher mildes, aber auch sehr wechselhaftes Klima. Heizungen sind in den Häusern nicht verbreitet, es kann auch schon mal richtig kalt werden.

Für das PJ muss man sich die Wohnung selbst organisieren. Zimmer kosten zwischen 150 - 200 US-Dollar pro Monat. Der Autor fand ein einfaches Zimmer mit eigenem Bad für 180 US-Dollar im Monat. Küche und Wohnzimmer konnte er mitbenutzen. Die Wohnung befand sich nur zehn Gehminuten von einem Supermarkt und 15 Minuten vom Krankenhaus und der Altstadt entfernt.

In Cuenca wird ausschließlich mit US-Dollar bezahlt. Maestro- und Visa-Karten funktionieren meist problemlos - sofern der Geldautomat nicht leer ist. Am besten sollte man aber immer genug Wechselgeld dabeihaben. Die Lebenserhaltungskosten sind günstiger als in Deutschland, wenn man auf teure Importprodukte verzichtet.

PJ in Cuenca

Die Universitätsklinik Cuenca steht auf der Liste der im Ausland zugelassenen Krankenhäuser für PJ-Studierende in Nordrhein-Westfalen. Nach Rücksprache mit dem jeweiligen Lehrbeauftragten und dem jeweiligen Landesprüfungsamt dürfte es aber auch in anderen Bundesländern kein Problem mit der Anerkennung geben. In Sachsen wird eine Verwaltungsgebühr von 25 Euro verlangt.

Die Bewerbung erfolgt etwa zwei bis sechs Monate vorher unkompliziert per Mail mit folgenden Dokumenten: Kopie des Reisepasses, Motivationsschreiben und Lebenslauf auf Spanisch, Immatrikulationsbescheinigung der Heimatuni und Staatsexamenszeugnis (reicht beides auf Deutsch), Brief des Dekans und Empfehlungsschreiben eines Professors (reicht beides auf Englisch, ein PJ-Beauftragter kann helfen) und das ausgefüllte Bewerbungsformular mit Foto. Zudem wird häufig ein Sprachenzertifikat verlangt. Dies ist nicht obligat, aber: In Ecuador spricht man Spanisch - das sollte man PJ-Studierender auch tun. Die obligate Immatrikulation in Cuenca kostet 220 US-Dollar und ermöglicht einige Vergünstigungen in Ecuador.

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