Das Erste, was man riecht, sind angezündete Räucherstäbchen. Wie in einem Tempel irgendwo in Asien, nur steht man in einem Glockenturm in Freiburg. Marmorboden, Betonwände im Bauhausstil, am Ende des Raumes steht der Altar. Darauf steht kein Kreuz, sondern ein Bonsaibäumchen. Auf einem Wandvorsprung daneben stehen mundgeblasene Weingläser und Flaschen mit Whisky, Rum, Gin und Absinth statt einer Bibel. Hinter dem Altar ist nicht der gekreuzigte Jesus zu sehen. Stattdessen lehnt ein abstraktes Gemälde an der Wand.
Die Kaiserstühlerin kaufte den Kirchturm und baute ihn um
Ingrid Maria Buron de Presers Hand liegt auf der leicht rauen Oberfläche des Altars. Sie lächelt. Der Turm gehört nicht mehr der Kirche, sondern ihr. Sie hat ihn entdeckt, gekauft, umgebaut.
Buron, lange, weiße Haare, eine Kette mit einem Glöckchen und einem Glasanhänger um den Hals, ist 59 Jahre alt. Das verrate sie nur ausnahmsweise, denn eigentlich habe sie dieses Jahr beschlossen, das Alter abzuschaffen. Sie war schon Zahnarzthelferin, hat in einer Band gesungen, als Schmuckdesignerin gearbeitet und für McDonald’s oder Arte Werbefilme gedreht. Sie nennt sich Film-Architektur-Designerin, weil Architekten auch Architektur studiert haben müssen, und das hat sie nicht. Sie arbeitet trotzdem seit 25 Jahren in der Branche, hat unter anderem ein Loft in der ehemaligen Riegeler Brauerei entworfen und jetzt den Turm – ihr "Herzensprojekt".
Kirche wurde kaum noch genutzt und 2006 entweiht
Der Glockenturm gehört zur 1965 vom Karlsruher Architekten Rainer Disse erbauten St. Elisabethkirche im Freiburger Stadtteil Zähringen. Den freistehenden Turm mit seinen vier Stockwerken nutzten die katholischen Pfadfinder, das Kirchenschiff die Gemeinde St. Elisabeth. Weil diese in den 90er-Jahren mit der St.-Konrad-Gemeine fusionierte, wurde die Kirche kaum noch genutzt und verfiel.
Das Geld für die Renovierung fehlte, also entweihte die Gemeinde 2006 Kirche und Turm mit einem Gottesdienst. Hostien, Reliquien und die Statue der Kirchenpatronin Elisabeth wurden herausgetragen, das Ewige Licht ausgelöscht. Die Gebäude standen leer, sollten abgerissen werden – bis 2012 der Bauinvestor Gisinger das Ensemble kaufte. Die Firma baute aus dem Kirchenschiff Wohnungen. Der 22 Meter hohe Glockenturm aber verfiel weiter. Neben dem Kreuz auf dem Dach begann ein Baum zu wachsen, der sich über mehrere Meter durch den Glockenturm bis ins dritte Stockwerk hinunter grub und die Außenwände aufbrach.
Mit einem Holzmodell ging Buron zur Denkmalschutzbehörde
Als Buron 2014 den Glockenturm das erste Mal betritt, ist Mittagszeit, aber im Turm ist es finster. Nur durch einen kleinen Spalt in der rechten Ecke fällt Licht in den Raum. Der Boden ist bedeckt mit Taubenkot und Bauschutt. Mit ihrem Mann räumt Buron alles zur Seite. Dann bringen sie Strahler in den Raum, versuchen sich vorzustellen, wie das wäre, wenn es hier Fenster gäbe. Buron sagt, sie habe sich gedacht: Hier kann man etwas draus machen.
In den alten Bauplänen schaut sie nach, wo sie schmale Fenster über mehrere Etagen einbauen kann, ohne dass diese auffallen. Mit einem Holzmodell geht sie zur Denkmalschutzbehörde. Dort bemerkt der Verantwortliche die Einschnitte tatsächlich nicht – und lobt sogar, dass sie im Gegensatz zu ihren Vorgängern äußerlich nichts verändert hat. Buron lächelt, als sie sich erinnert. Sie bekommt die Erlaubnis, ein Konzept zu erstellen. Es folgen Jahre voller Arbeit, ihre Ideen wandern allein bei der Denkmalschutzbehörde durch mehr als 20 Hände. Mit Investor Karl-Jörg Gisinger hat sie per Handschlag ausgemacht, dass sie den Turm kauft, sobald sie die Baugenehmigung bekommt. Sie kommt aus einer Bauernfamilie, das hat sie so von ihrem Vater gelernt. 2018 ist es dann so weit. Sie kauft den Turm. Und steckt alles hinein, was sie hat – finanziell und körperlich.
Statt Gottesdienst nun Konzerte und Kultur
Buron läuft durch die ehemalige Kappellhalle im Erdgeschoss und erklärt, was sie verändert hat. Sie klatscht in die Hände, um den Schall der schrägen Klangwände zu demonstrieren, die sie mit Straßenmusikern und Opernsängern schon ausprobiert hat. Präsentiert die L-förmigen Einbuchtungen an der Wand, wo früher Kirchenbänke waren, und in die sie wieder Bänke einlassen will – aus dem originalen Holz, das sie retten konnte. Sie zeigt die gelben, blauen und grünen Farbkleckse auf der schmalen Wendeltreppe, die in die oberen Stockwerke führt. Die Pfadfinder hatten die Treppe mit Farbe bemalt, die Buron in wochenlanger Handarbeit Schicht um Schicht entfernte. Sogar den kleinen Kirchengarten hat sie erhalten, dort stehen Fahrradständer in knöchelhohem Gras.
Aus den ehemaligen Jugendräumen im ersten, zweiten und dritten Stock sind kleine Appartements geworden. Auf dem Boden liegen Kuh- und Zebrafelle, hier und da stehen antike Sessel, die Wände hat eine Künstlerin in Erdtönen mit filigranen Bäumen, Sträuchern und Pflanzen bemalt. Die Wohnungen könne man einzeln mieten oder gleich den ganzen Turm, erklärt Buron, geht durch die Zimmer, zeigt auf das Licht, das von einem Fenster zum nächsten wandert. Sie habe schon Anfragen für Ferienwohnungen. Aber sie möchte, dass der Turm in ihrer Hand bleibt. Sie will lieber an Gastprofessoren vermieten, an Therapeuten oder an Paare, die in der ehemaligen Kapelle vor dem Altar getraut werden und dann ihre Hochzeitsnacht in den oberen Stockwerken verbringen. Ausstellungen, Konzerte, Galerien sollen in den Turm ziehen.
Statt der Glocke hängt nun ein Kamin im Glockenstuhl
Im Glockenstuhl angekommen, breitet Buron lächelnd die Arme aus. "Das ist das Highlight", sagt sie, und ihre Stimme hallt in dem sieben Meter hohen Raum, den sie heute "Himmelstor" nennt. Auch hier haben die Pfadfinder Spuren an den Wänden hinterlassen – Rechenaufgaben, Herzen, Initialen. Statt der Glocke, die 2014 nach Tansania umzog, hängen nun ein tropfenförmiger Kamin aus schwarzem Stahl und zwei Korbsessel von der Decke. "Da müssen Sie sich unbedingt hineinsetzen", sagt Buron.
Als sie 2018 die Baugenehmigung erhält und das Denkmalschutzamt vorschlägt, dass sie auch die Bauleitung übernehmen soll, kalkuliert sie bis ins letzte Detail ihr Budget – und wo sie sparen kann. "Ich bin eine Privatfrau, kein Investor mit einem endlosen Budget." Die beste Lösung: mitanpacken. Auf der Baustelle ist Buron Planerin, Bauherrin, Architektin und Arbeiterin. "Ich bin die Letzte und die Erste gewesen, sieben Tage pro Woche." Mit "harter Arbeit" sei sie aufgewachsen, in den Weinreben Oberbergens im Kaiserstuhl. Sie sucht sich kleine, lokale Firmen, die sie mit aufs Gerüst und so viel wie möglich selber machen lassen. Nach jedem Schritt kommt die Denkmalschutzbehörde und segnet ab, was sie getan hat und vorhat. Heute heißt es aus dem Landesdenkmalamt, man sei äußert zufrieden mit dem Ergebnis.
Buron musste sich verpflichten, kein Bordell zu bauen
Die Kirchengemeinde Nord hatte nichts mehr mit dem Umbau zu tun. Buron musste sich nur verpflichten, weder ein Bordell noch eine Spielhalle in den Turm zu bauen. Das hatte die Kirche 2006 schon mit Gisinger im Kaufvertrag vereinbart. "Nach dem Verkauf waren wir völlig unbeteiligt. Ich bin nur manchmal am Turm vorbeigefahren", sagt Pfarrer Frank Prestel am Telefon, der gerne wissen würde, wie der Turm jetzt aussieht. Er kenne ihn noch als sehr dunklen Ort, wisse gar nicht, dass dort ein Altar gestanden hatte. "Der Turm wurde nie wirklich benutzt." Den Umbau der Elisabethkirche findet er gelungen – wenn er mit dem Kopf denkt. "Persönlich ist man da sehr zwiespältig. Es war immerhin einmal eine Kirche."
"Man wird verrückterweise ganz ehrfürchtig. Kirchenorte sind Kraftorte. Das spürst du."
Ingrid Maria Buron de Preser
Dass es sich um eine Kirche handelt, ruft sich Buron während der Bauphase immer wieder ins Gedächtnis. Wenn die Arbeit getan und alles gut gegangen ist, dankt sie dem Raum. Nach jeder großen Etappe räuchert sie mit weißem Salbei, "um den Turm zu reinigen" und die "negativen Energien" zu verdrängen. Oft zünden sie und die Handwerker Kerzen bei der Arbeit an. "Da sagen vielleicht viele, wir spinnen ein bisschen. Aber wir haben alle gemerkt, dass es uns gutgetan hat", sagt Buron, die sich selbst als gläubig bezeichnet.
Sie sitzt wieder im Kappellraum an einem Tisch aus dunklem Holz und spricht mit leiser Stimme. "Man wird verrückterweise ganz ehrfürchtig. Kirchenorte sind Kraftorte. Das spürst du."
"Ich habe hier alles einfließen lassen, was ich jemals gelernt habe."
Ingrid Maria Buron de Preser
Sie erzählt von ihrem Mann Gerd Preser, ohne den sie den Turm nie umgebaut hätte. Er habe ihr Mut gemacht, ein so großes Projekt anzugehen. Er starb vor wenigen Wochen, ganz unerwartet. Sie habe mit ihm ihren Rückhalt verloren. "Jetzt hält mich der Turm", sagt Buron. Sie lässt den Blick durch den Raum wandern. Von Mitte August an soll er mit einer Ausstellung geöffnet werden, die ihren Mann ehrt. Vermieten möchte sie erst von 2020 an. Sie merke, dass sie jetzt erst mal Ruhe brauche für sich und ihren Turm. Freunde sagen, er sei ihr Lebenswerk. Buron nickt. "Weil ich hier alles habe einfließen lassen, was ich jemals gelernt habe."
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